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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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feine, kaum merkliche Geruch aus Seife und Parfum. Einen winzigen Moment lang glaubte ich, du wolltest zu mir kommen, und setzte an, die Arme nach dir auszustrecken. Doch dann sah ich im fahlen Licht der Morgendämmerung deine Reisekleidung. Nie zuvor bin ich so tief erschrocken wie damals, und jedes andere Erschrecken, das mir seither zugestoßen ist, war verglichen damit ein Nichts. Ich hoffe, nie wieder eine so große, so schmerzhafte Wachheit ertragen zu müssen wie in jenem Augenblick, als mir deine Absicht klar wurde. Du saßest sehr aufrecht, die Hände im Schoß. Es lag eine entsetzliche Bestimmtheit in dieser Haltung, und dein Blick besaß eine Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete. «Adieu» , sagtest du nur. Halb aufgerichtet wollte ich gerade fragen, wohin, da hast du nur stumm den Kopf geschüttelt. (Manchmal verfolgt mich dieses Kopfschütteln im Traum auch heute noch.) Wie nach einem Faustschlag sank ich ins Kissen zurück. Deine Entschlossenheit, so schien mir, geriet für einen Augenblick ins Wanken, als du meine Tränen sahst, und du schlossest die Augen, um in deinen Willen zurückzufinden. Immer noch mit geschlossenen Augen beugtest du dich plötzlich zu mir herunter und küßtest mich auf die Stirn. Dann warst du mit einer einzigen schnellen Bewegung bei der Tür, die du, ohne dich noch einmal umzudrehen, hinter dir zumachtest.
    Ich hörte deine leisen Schritte auf der Treppe und im Entrée, und einmal das Schleifen von etwas, das deine Reisetasche sein mußte. Erst jetzt sprang ich auf und trat auf die Galerie. Du hattest den Schlüssel außen ins Schloß gesteckt, ich sah, wie sich die Tür lautlos schloß, und hörte, wie der Schnapper leise ins Schloß glitt. Ich stürzte ans Fenster. Seitlich geneigt gingst du mit unregelmäßigen, angestrengten Schritten die Straße entlang. Einmal setztest du die Tasche ab, um zu verschnaufen. Ich hoffte, du würdest dich umdrehen und zu meinem Fenster heraufblicken. Darüber vergaß ich zu atmen. Doch du standest nur da und massiertest die Hand. Dann nahmst du die Tasche in die andere Hand und gingst weiter, auf den Mexikoplatz zu und hinaus aus meinem Leben.
    Damals breitete sich eine schreckliche Stille aus, die für lange Zeit auch den größten Lärm übertönen sollte: die Stille deiner Abwesenheit. Ich hörte das Geräusch einer jeden Bewegung, die ich machte. Vor allem meine Schritte hörte ich. Es kam mir vor, als sei ich nichts anderes als der Resonanzkörper für die Geräusche, die so schrecklich laut von deinem Verschwinden zeugten. Ich verließ das Haus in der Hoffnung, der Lärm der Straße würde die gespenstischen Laute der Stille aufsaugen. Doch weder das Aufheulen von Motoren noch das ohrenbetäubende Knattern von Preßlufthämmern vermochte der betäubenden Stille etwas anzuhaben. Ich hörte weiterhin jeden einzelnen meiner Schritte auf dem Pflaster, jedes Reiben des Ärmels an der Jacke, ja sogar jeden Atemzug, den ich tat. Im Haus spürte ich das Pochen meines Bluts und hörte - seit Jahren das erste Mal mit Bewußtsein - das Ticken der Pendule im Entrée. Von da an schien die Welt voll von tickenden Uhren zu sein, sogar das Ticken meiner Armbanduhr meinte ich zu hören. Nichts hätte die plötzliche Leere der Zeit, ihr dürftiges, lebloses und dennoch aufdringliches Verfließen besser zum Ausdruck bringen können als dieses Ticken.
    Der heutige Abschied war noch nicht der letzte. Der endgültige steht uns noch bevor. Wir werden in Paris aus dem Bistro kommen, das du für diese Begegnung ausgesucht hast. Wie wird es aussehen? Werden wir unsere Aufzeichnungen gegeneinander über die Marmorplatte schieben wie bei einem Treffen von Spionen? Oder werden wir sie erst austauschen, wenn wir wieder draußen sind? Werden wir getrennt zahlen, oder werden wir versuchen, einander zu diesem letzten Kaffee einzuladen - du als die Gastgeberin, ich als der Besucher? Und was werden unsere letzten Worte sein? Worte eines solchen Abschieds haben wir nicht in unserem Repertoire. Es war nicht vorgesehen, daß wir sie eines Tages brauchen würden.
    Wir werden auf der Straße stehen, jeder die Papiere des anderen in der Hand, um dann unserer Wege zu gehen, jeder einen anderen. Wie das sein wird - ich wage nicht daran zu denken.

    Es ist Abend, und das Haus ist leergeräumt. Bis auf den Flügel, Vaters Schreibtisch, den Koffer mit den Partituren und das Sofa, auf dem ich schlafen werde. Vaters Arbeitszimmer, hatte ich den Möbelpackern gesagt,
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