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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Stunde zu früh bei dem Bistro, das seine Schwester als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Nach einem Blick auf die Uhr trat er ein und nahm Platz. Als der Kellner auf ihn zuging, erhob er sich unvermittelt, verließ das Lokal und setzte sich ins nächste Café auf der anderen Straßenseite. Nach der zweiten Tasse Kaffee holte er einen Stoß blauer Hefte aus der Schultertasche, die über der Stuhllehne hing, und begann zu blättern. Nach und nach wurde aus dem Blättern ein Lesen. Mittendrin brach er wieder ab und schlug das nächste Heft auf, an einer zufälligen Stelle, wie es schien. Seine Bewegungen, die anfänglich schläfrig wie die eines Müßiggängers erschienen waren, wurden fahrig. Als er mit dem Arm die Kaffeetasse umstieß, hielt er inne, schloß die Augen und steckte die Hefte nach einer Weile zurück in die Tasche.
    Zur verabredeten Zeit ging Patrice hinüber ins Bistro. Kaum hatte er sich gesetzt, trat seine Schwester durch die Tür. Es war eng zwischen den Tischen, so daß es bei der Begrüßung nur zu einer flüchtigen Berührung kam. Wer von draußen durch die Scheibe blickte, sah einen jungen Mann und eine junge Frau mit südländischen Gesichtszügen, die sich mit der scheuen Aufmerksamkeit von Menschen anblickten, die sich nach langer Zeit wiedersehen oder die bald werden Abschied nehmen müssen. Einmal fuhr sich der Mann mit der Hand durchs Haar. Da lächelte die Frau wie jemand, der nach langer Zeit eine geliebte Melodie hört. Als er daraufhin etwas sagte, lachte sie richtig. Nun war es sein Gesicht, auf dem ein Lächeln des Wiedererkennens erschien.
    Nachdem der Kellner frischen Kaffee gebracht hatte, griff der Mann in seine Schultertasche und holte zwei blaßgelbe Becher hervor, die er vor sich hinstellte. Zielsicher griff die Frau nach einem der Becher, und mit der anderen Hand berührte sie den Mann am Arm. Als hätte jemand ein Kommando gegeben, griffen sie zu ihren Tassen und gossen den Kaffee in die Becher. Dann hoben sie die Becher und stießen an. Die Leute am Nebentisch, die das Geschehen verblüfft beobachtet hatten, lachten. Nachdem sie ausgetrunken hatten, stießen der Mann und die Frau noch einmal an und setzten die Becher dann ab. Jetzt griff die Frau in ihre Tasche und holte einen Stoß roter Hefte hervor. Auch der Mann legte seine Hefte vor sich auf den Tisch. Sie schoben die beiden Stöße nebeneinander und schienen ihre Höhe zu vergleichen. Dann, als täten sie beide einen tiefen Atemzug, schoben sie sich die Hefte zu. Scheu fuhren sie mit der Hand über das oberste Heft wie über etwas Kostbares, Zerbrechliches. Auch die anderen Hefte nahmen sie in die Hand, wie um ein jedes von ihnen zu würdigen. Den Blick hielten sie gesenkt, und für den Betrachter schien sich an dem Tisch der beiden eine Stille auszubreiten, die nicht zu der Betriebsamkeit im Lokal paßte. Als der Mann und die Frau die Hefte schließlich langsam und umständlich in ihre Taschen schoben, hatten sie keines davon aufgeschlagen.
    Für eine Weile sprachen die beiden nun miteinander und waren darin von den anderen im Lokal nicht zu unterscheiden. Nur ihre Gesichter waren aufmerksamer als bei Leuten, die sich auch sonst oft sehen. Dann, auf einmal, wurden die beiden still. Als sei jetzt alles gesagt. Als der Mann zahlen wollte, winkte die Frau ab und legte einen Geldschein auf den Tisch.
    Sie traten auf die Straße und gingen langsam nebeneinander her. Einmal ergab es sich, daß sie genau im Gleichschritt gingen. Da wandten sie sich die Gesichter zu und lächelten.
    In einer stillen Straße kamen ihnen drei Jungen und ein Mädchen in Jeans und Turnschuhen entgegen. Sie redeten eifrig miteinander und schienen nur mit sich selbst beschäftigt. Das Mädchen war außergewöhnlich hübsch. Patrice betrachtete sie, und Patricia betrachtete ihn dabei. Plötzlich gingen die vier zum Angriff über. Patrice und Patricia wurden eingekreist. Sie waren so überrascht, daß sie sich nachher an keine Einzelheiten erinnern konnten. Nur daß sie überall Hände auf sich gespürt hatten. Die Jungen und das Mädchen stoben auseinander, und das erste, was den Geschwistern auffiel, war, daß ihre Taschen verschwunden waren. Patrice begann zu rennen, doch die vier waren bereits um die Ecke verschwunden, jeder um eine andere.
    Zitternd und außer Atem traten sie unter einen Torbogen. Wortlos holte Patrice Flugschein, Paß und Geld aus der Innentasche der Jacke. Minutenlang standen sie nebeneinander, in Gedanken versunken und mit
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