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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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konnten.
    «Das Genfer Kinderballett sollte zu einer Aufführung nach Kopenhagen fahren, auf eigene Kosten. Als ich Papa die Summe nannte, gab er mir das Doppelte. ‹Damit du dir dort etwas Ordentliches leisten kannst›, sagte er, ‹aber dafür will ich doppelt so viele Küsse wie sonst.› Als das Geld am Tag darauf eingesammelt wurde, fehlte Larissa, die Tochter russischer Flüchtlinge. Sie hatte sich auf der Toilette eingeschlossen und erschien erst nach einer Stunde. Als Arlette, die Tanzlehrerin, sie in der Pause nach dem Geld fragte, stotterte sie: ‹ Papa ne peut pas permettre .› Was er denn gegen die Reise habe, daß er die Erlaubnis verweigere, fragte Arlette. Keine Antwort, Larissa blickte zu Boden. Plötzlich ging Arlette ein Licht auf: ‹ Il ne peut pas se le permettre. Ist es das, was er gesagt hat: daß er es sich nicht leisten kann? Daß er das Geld für deine Reise nicht hat?› Larissa nickte.
    Das war das erste Mal in meinem Leben, daß mir bewußt wurde: Geld ist nicht selbstverständlich. Und: Man kann es als Schande empfinden, wenn man es nicht hat. Ich mochte Larissa nicht besonders, sie war in allem einen Tick besser als ich, der heimliche Star. Aber wie sie dastand, den Kopf gesenkt, den Blick auf die geflickten Ballettschuhe gerichtet: Man konnte es nicht mit ansehen. Und so holte ich zu Hause die zweite Hälfte von Papas Geld hervor. Im Geschäft, an der Kasse, überreichte man Geldscheine einfach so, bei anderen Gelegenheiten dagegen übergab man sie in einem Umschlag, das hatte ich herausgefunden. Richtig klar war mir nicht, wann man was tat, und warum. Versteckte man die Scheine in einem Umschlag, weil man sich ihrer schämte? Oder weil man sich genierte, daß jetzt überhaupt von Geld die Rede sein mußte? Ich fand all das ziemlich verwirrend und entschied nach langem Hin und Her, daß im Fall von Larissa ein Umschlag angebracht war.
    Den Umschlag holte ich hervor, als ich bei Larissas Eltern im Wohnzimmer stand. Auf dem Weg hatte ich mich in der Großzügigkeit meiner Absicht genossen, doch jetzt war mir nicht wohl bei der Sache. ‹Für Kopenhagen›, sagte ich. Larissas Vater lief rot an, und da wußte ich, daß ich einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Seine Frau legte ihm die Hand beschwichtigend auf den Arm. ‹Wer hat dir das gegeben?› fragte sie und zeigte auf den Umschlag, den niemand aus meiner anbietenden Hand entgegennehmen wollte. ‹Papa›, sagte ich. ‹Als Taschengeld. › Das Gesicht von Larissas Mutter wechselte schnell hintereinander den Ausdruck. Einmal war es Rührung über die kindliche Großherzigkeit, im nächsten Augenblick Ärger. Den Ärger verstand ich nicht, spürte aber, daß meine Auskunft die Sache eher noch verschlimmert hatte. Immer noch hielt ich den Umschlag in den leeren Raum hinein. Ganz plötzlich dann fühlte ich mich gedemütigt. Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich die Treppe der Mietskaserne hinunterrannte. Irgendwo auf dem Heimweg nahm ich die Hundertfrankenscheine aus dem Umschlag und riß sie in Fetzen. Es war gut, daß Maman von Papas übertriebenen Geschenken meistens nichts erfuhr. So konnte ich sie am Vorabend der Reise um etwas Taschengeld für Kopenhagen bitten.
    Arlette trieb Geld für Larissas Reisekosten auf. Die Eltern lehnten ab. Arlette war gekränkt. Larissa sprach wochenlang kein Wort mehr mit mir. Da wußte ich: Geld, vor allem fehlendes Geld, war etwas, wobei man nur Fehler machen konnte.
    Sich etwas leisten können: Das Wort und die Idee beschäftigten mich noch lange. Seit Kopenhagen hatten sie für mich mit der Frage zu tun, wie weit man reisen konnte. Ich stand neben dem großen Globus im Salon, maß mit den Fingern eine Strecke aus und fragte Papa: ‹Können wir uns das leisten?› Er nickte und lächelte dabei zufrieden. ‹Und das?› Wieder nickte er und steckte die Pfeife in den Mund. Die Strecken wurden riesig, bis nach Indien und China. Immer noch nickte Papa. ‹Aber um die ganze Welt: Das kann sich doch niemand leisten. Oder?› ‹Wir schon›, sagte Papa und hielt ein Streichholz an den Tabak.
    Ich betrachtete sein lächelndes Gesicht hinter den Rauchwolken, und da spürte ich zum erstenmal in meinem Leben, daß ich etwas an Papa nicht mochte, nämlich eben dieses Lächeln. Er verstand nicht, daß ich auf einmal verstimmt war. Auch ich verstand es erst viel später: Ich war enttäuscht, daß es für uns keine unerfüllbaren Wünsche gab. Das Wissen, daß wir ohne weiteres zu jedem Punkt auf
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