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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Frau aus der Staatsbibliothek. Du hattest recht: Sie sprach über Maman wie über eine Lehrerin, der man ein Leben lang dankbar ist. Dabei war sie älter als Maman.«Über die Geschichte des Balletts wußte sie alles. Da machte ihr niemand etwas vor. Und wenn sie davon erzählte: Es war, als sei es Gegenwart und nicht ferne Vergangenheit. Sie würde gern Russisch lernen, sagte sie. Um den großen russischen Balletteusen näher zu sein. Aber wegen der Schmerzen könne sie die fremden Wörter nicht behalten, es sei zum Verzweifeln.»Von dem, was über Maman in der Zeitung stehe, glaube sie kein Wort, fügte die Frau hinzu und machte eine Bewegung, die es einfach wegwischte. Sie tat uns gut, diese Bewegung. Doch was die Frau erzählt hatte, tat auch weh: Es war ein wildfremder Mensch, mit dem Maman die Begeisterung übers Ballett hatte teilen müssen.
    Ich verließ das Grab und ging lange über den Friedhof. Das Gehen wurde zu einem stummen Kampf mit Paco. Ich versuchte, seine klebrige Hand in der meinen zu spüren. Ich wollte, daß es mit ihm so wäre wie früher. Aber seit dem letzten Telefongespräch wollte das nicht mehr gelingen. Ich hatte in die rauschende Entfernung hinein gesagt, daß es hier schneie. «Es mentira», hatte er erwidert. Damals wie jetzt sagte ich mir: Du darfst das nicht als Lüge hören. Es heißt nur: Das kann ich nicht glauben, das kann ich kaum glauben. Und das ist doch ganz natürlich für ein Kind: In Santiago ist jetzt Hochsommer. Ich sagte es mir stets von neuem. Es half nichts. Mentira. Mit diesem Wort war etwas eingestürzt, etwas, was man nicht wieder würde aufbauen können. Oder doch? Auf dem Friedhof nahm ich ein letztes Mal Anlauf. Ich dachte an ihn als krankes Kind, als Patienten, dem man nichts übelnehmen durfte. So betrachtet konnte ich sanft und vorsichtig mit ihm umgehen. Ich konnte mit ihm durch die Tür der Klinik treten und ihn in die Obhut von Mercedes geben. Ich war erleichtert, wenn sie ihn bei der Hand nahm. Doch eines konnte ich nicht: Ihm von dir und mir erzählen, mich ihm anvertrauen. Dazu mußten wir Freunde sein, über alle Unterschiede hinweg und ohne Rücksicht auf Gesundheit und Krankheit. Es mußte sein wie bei der geteilten Musik, beim Atmen im gleichen Takt. Doch dann - ja, dann verletzte das Wort von der Lüge. Señorito: Kein einziges Mal habe ich unsere Phantasieanrede in jenem Gespräch gebraucht. Vielleicht auch deshalb, weil Paco kein Wort über das Foto von dir gesagt hatte.

    Als ich vom Friedhof zurückkam, fiel mir der Schnee auf, der an der Litfaßsäule hängengeblieben war. Als ich näher trat, erkannte ich das Muster: Der herangewehte Schnee war in den Vertiefungen hängengeblieben, die Vater mit dem Fleischermesser aufgerissen hatte. Sie hatten inzwischen neue Plakate darübergeklebt, und der Kleister hatte die Unebenheiten zum Teil ausgeglichen. Aber einige besonders wütende Gräben waren geblieben, und darin hatte sich der Schnee verfangen.

    Es dauerte fast einen Tag, bis ich mein verrücktes Tonstudio abgebaut hatte. Als ich am Morgen danach aufwachte, war es sehr leer im Raum. Der Flügel und der Schreibtisch wirkten wie tote Gegenstände auf einer Auktion. Ich packte Vaters Partituren ein, eine nach der anderen. Oben drauf meine Entwürfe zum Kohlhaas -Libretto. Dann schloß ich den Metallkoffer ab. Gegen Mittag kamen die Leute vom Klaviertransport und standen in blauer Arbeitskleidung um den glänzenden Steinway herum. Ob ich mich jetzt von ihm trennen könne, fragten sie lachend. Ich bin in ein anderes Zimmer geflüchtet, als sie ihn auseinandernahmen und hinaustrugen. Auch als später der Schreibtisch gekippt wurde, um durch die Tür zu passen, ging ich hinaus.
    Ich träumte vom Koffer mit den Partituren. Stundenlang umwickelte ich ihn mit Klebeband, Schicht über Schicht, und immer noch eine. Damit ja kein Wasser hineindränge. Denn er sollte im Meer versenkt werden. Dort wäre er geborgen, war mein Gefühl.«Du möchtest sowohl, daß die Partituren aus der Welt verschwinden, als auch, daß sie bleiben», lachte Juliette.«Wir bewahren sie für dich auf. Bei uns zu Hause sind sie sicher. Und es gefällt mir, die Hüterin all dieser Töne und Worte zu sein.»

    Die letzte Nacht verbrachte ich im Hause der Arnauds. Es war mir nicht schwergefallen, die erneute Einladung anzunehmen. Auf dem Weg hielten wir bei der Post, wo ich den Umschlag mit den Wohnungsschlüsseln für Baranski aufgab. Beim Abendessen erzählte ich, wie der Makler
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