Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Farbenscholastik hatte ich schon einige Tage zuvor aufgegeben. Ein Beobachter hätte bestimmt laut gelacht: Nachdem ich das letzte Buch weggelegt hatte, warf ich meine Buntstifte in die Mülltonne. Sie schienen von der Idee des Erfolgs befleckt. Vor dem Schlafengehen holte ich den Kasten wieder heraus.
    Ins Stocken geriet ich bei der Puccini-Biographie, die ich Papa zum Geburtstag hatte schenken wollen und die ich ihm statt dessen ins Gefängnis brachte. Er hatte sie an einer einzigen Stelle geöffnet: dort, wo Puccini über die anfänglich ablehnenden Reaktionen auf La Bohème berichtet. Ich sah Papa auf der Pritsche sitzen, das Buch in den großen Händen. Ein letztes Mal hatte er sich vergewissern wollen, daß auch die Erfolgreichen mit Enttäuschungen zu kämpfen haben.
    Als ich die Kartons mit Klebeband verschloß, war es, als würde ich sie versiegeln. Niemand würde dieses Siegel aufbrechen dürfen, niemand.
    Gegen drei Uhr früh ging ich ins Studio, um die Gemeinheiten aus meinem Film über Israel Nestjev herauszunehmen. Beide Mittel, die es Madame Bekkouche angetan haben, hatte ich reichlich eingesetzt: à bout de souffle und l’écho visuel. Atemlos liefen die Bilder auf sein zuckendes Gesicht zu, und das Echo seiner albernen Worte wollte und wollte nicht aufhören. Jetzt ist es ein braves Portrait. Ich habe sogar sein asthmatisches Schnaufen zwischen den Sätzen herausgeschnitten. Geblieben ist eine gewisse Kühle des Berichts. Sollte ich später doch wieder als Cutterin arbeiten, möchte ich herausfinden, was genau an einer Bildfolge es ist, das solche Dinge wie Kühle und Distanz erzeugt.
    Kurz bevor die ersten Kollegen kamen, legte ich einen knappen, förmlichen Brief an Florence Bekkouche auf mein Pult: die Kündigung. Dann setzte ich mich in ein Bistro und sah zu, wie es unter dem wolkenverhangenen Himmel langsam hell wurde.
    Am Tag darauf brachte die Spedition Papas Bücher zu Madame Auteuil. Die Kartons füllen jetzt mein altes Zimmer, das sie nicht mehr vermietet. Sie ist in den fünf Jahren stark gealtert, ihre Hände zitterten, als sie mir Tee einschenkte.«Man kann die Sachen der Eltern, auch die wichtigen, nicht ein Leben lang aus Pietät mit sich herumschleppen», sagte sie.«Sie sind nicht Teil des eigenen Lebens. Sie sind es ganz einfach nicht. Irgendwann einmal müssen sie zurück in den großen Umlauf der Dinge - als Handelsobjekt, Spielzeug oder was auch immer. Und eines Tages werden auch diese Sachen Abfall. Ich finde daran nichts Schreckliches. Im Gegenteil, es ist ein befreiender Gedanke.»Erst als ich wieder zu Hause war, fiel mir ein, woran mich diese Worte erinnert hatten: An das, was Solange, Papas Großmutter, dem kleinen Fritz Bärtschi über Gedächtnis und Vergessen geschrieben hatte.
    Seit gestern sind die vielen Balken in meiner Wohnung wieder weiß und nackt. Was noch hängt, ist das Bild von Clara, die Papa zu Puccinis Erfolgsfee umgedichtet und zu seiner Gefährtin auf dem Flügel gemacht hat. Dieses Bild, habe ich das Gefühl, wird lange bleiben. Keine Ahnung habe ich, was mit Désirée Aslanischwilis Buchmanuskript werden soll. Es ist, wie Papas Partituren, ein Dokument der Vergeblichkeit. Gelten Madame Auteuils Worte am Ende auch dafür?

    Du bist heute abend in der Stadt. Das weiß ich ohne nachzudenken. Du wirst dich auf unser Treffen vorbereiten wollen. Auf so etwas willst du dich immer vorbereiten. Irgendwann wirst du unten stehen. Wenigstens von außen wirst du wissen wollen, wo ich lebe. Du wirst nicht klingeln, auch dessen bin ich mir sicher. Das ist etwas, was wir gelernt haben: daß es für die Liebe Regeln gibt, eine Ordnung, an die sie sich zu halten hat, will sie sich nicht verfärben und in Empfindungen verwandeln, die ihr entgegengesetzt sind.
    Du wirst meine Hefte mit ans andere Ende der Welt nehmen. Wieviel von dem, was mir beim Schreiben klar war, wird klar bleiben? Läßt sich, was man einmal in Worte gefaßt hat, weiterleben wie bisher? Oder ist die stille Beschäftigung mit Worten die wirkungsvollste Art, das Leben zu verändern - wirkungsvoller als die lauteste Explosion?
    Irgendwann morgen nachmittag wird es soweit sein. Wir werden getrennte Wege gehen, für immer. Wenn dein Flugzeug abhebt, werde ich wieder hier sitzen und zu lesen beginnen, wie es dir mit mir ergangen ist. Was immer es für Worte sein mögen, die ich lese: Ich werde sie in mir aufbewahren, jedes einzelne von ihnen. Das sollst du wissen.

Abschied
    PATRICE DELACROIX war eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher