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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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hatte es nicht tun wollen und bin doch nach der Ankunft ins Musée d’Orsay zu Monets Bild gefahren. Zu unserem Bild. Der Abstand, aus dem der Schnee am besten wirkt, beträgt sieben Schritte. Einen langen Blick habe ich auf die große Uhr in der Halle geworfen. Du und ich, wir haben tagelang nach einer Armbanduhr gesucht, die ihr ähnlich wäre. Es hätte eine Uhr für dich sein können, oder für mich, oder für beide. Wir haben sie nicht gefunden.
    Nachher bin ich hier ins Hotel geflüchtet und habe geschrieben. Abends dann bin ich zu dem Haus gefahren, in dem du wohnst. Es war eine lange Fahrt; ich hatte das Hotel danach ausgesucht. Nach der Klingel zu urteilen, konnten es zwei Wohnungen sein, beides Dachwohnungen. Aus der einen drang Licht, die andere war dunkel. Warum nicht einfach klingeln? Schließlich warst du es doch, Patricia, meine Schwester. Aber es war ja nicht ohne Grund, daß du ein Bistro vorgeschlagen hattest. Ein Bistro weit weg von der Wohnung.

    Wenn das Flugzeug heute abend abhebt, werde ich in deinen Aufzeichnungen zu lesen beginnen. Ich werde Zeuge deines Erinnerns werden. Vielleicht werde ich erfahren, daß unsere Liebe für dich ganz anders war als für mich. Ist das Erinnern etwas, für das es einen Zeugen geben sollte? Ist es etwas, was man teilen kann? Wäre es nicht besser, wir begegneten uns einfach so - und zeigten uns unsere Grenzen, wie die Worte sie gezogen haben?
    Ich betrachte den Stoß meiner Hefte. Jetzt, da alles aufgeschrieben ist, möchte ich es nicht mehr lesen. Es kommt mir vor, als hätten die Worte in diesen Heften ohne mein Wissen von Anfang an einem ganz anderen Zweck als dem Lesen gedient. All dies aufzuschreiben - es hat mir die Gegenwart zurückgegeben, die ich vor langer Zeit verloren hatte. Nun jedoch ist es anders als früher: Sie ist eine Gegenwart ganz allein für mich. Wird sie standhalten, wenn ich nachher das Bistro betrete und deinem Blick begegne?

Patricia
    SIEBTES HEFT
    MIT STÉPHANE IN DIE Oper zu gehen war ein großer Schritt. Ich bin in den vergangenen Jahren kein einziges Mal im Konzert gewesen, geschweige denn in der Oper. Plattenspieler habe ich auch keinen gekauft. Musik, das war Papas Unglück. So habe ich es empfunden. Natürlich galt das besonders für die Oper. Ich habe eine Blindheit für Plakate entwickelt, auf denen Opern angekündigt werden. Ich brauche nichts dazu zu tun: Ich übersehe sie, auch wenn ich davor stehe. Die Kollegen im Studio sprechen am nächsten Tag über die Aufführungen. Ich sitze dabei und mampfe Kartoffeln. Seit ich aus Berlin zurück bin, wird das Thema in meiner Anwesenheit gemieden. Ich weiß nicht, was in den hiesigen Zeitungen gestanden hat. Aber natürlich wissen sie: Sie ist die Tochter.
    Stéphane kam mit Karten für La Serva Padrona von Pergolesi, ein kleines, kammermusikalisches Stück voller Humor und Augenzwinkern. Nichts könnte von Tosca weiter entfernt sein.«Komm», sagte er,«irgendwann mußt du anfangen, man darf sich die Musik von niemandem stehlen lassen.»
    Erst nach der Aufführung habe ich begriffen, daß er diese Worte auch zu sich selbst sagte. Auch für ihn war es viele Jahre her, daß er zum letztenmal eine musikalische Veranstaltung besucht hatte. Er hatte es hin und wieder versucht, war aber mittendrin davongelaufen, oft noch vor der Pause, vorbei an wütend zischenden Leuten. Jedesmal war es die Erinnerung an Colette, seine kleine Schwester, die ihn hinausgetrieben hatte.
    «Unweigerlich mußte ich an ihre Geige denken. Ihre Geige. Alles drehte sich um ihre verdammte Geige. Sie spielte nicht wie ein Wunderkind, nein, das ist nicht wahr. Aber sie spielte gut. Und sie sonnte sich in ihrem Können, alle lagen ihr zu Füßen. Ich war der Statist, der ihr in den Pausen die Geige halten durfte. Bei Gelegenheiten, wo sie aufspielte, strahlte Mutter, sie strahlte und strahlte, es war nicht zum Aushalten. An mich richtete keiner das Wort. Es war wie mit den Ohrenklappen, den bestickten und den anderen. Und eines Abends dann war es zuviel für mich. Es war einfach zuviel. Ich zerstörte die vielgepriesene Geige. Ich zertrampelte sie. Mutter und Colette haben danach kaum mehr ein Wort mit mir geredet.»
    Wir haben an jenem Abend vor drei Tagen beide einen großen Schritt getan. Auch aufeinander zu. Trotzdem ist hinterher jeder in seine eigene Wohnung gegangen. Langsam, aber ohne Zögern habe ich Papas Bücher zurück in die Kartons getan. Es war der Moment, es zu tun. Die Beschäftigung mit Papas
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