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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Empfindung von neuem aufbrechen lassen: daß die Dinge ihre Fremdheit für mich erst verlieren, wenn auch du sie gesehen hast. Wenn ich geglaubt hatte, mir diese Räume auch ohne dich zu eigen gemacht zu haben, so wurde ich in jenem Augenblick eines Besseren belehrt: Es hatte sich um bloße Gewöhnung gehandelt. Zu einem Teil von mir würden sie erst dadurch werden können, daß ich sie mit dir teilte. Insgeheim, da bin ich sicher, habe ich darauf gewartet, daß du sie eines Tages betreten und mir dadurch gewissermaßen übereignen würdest.
    Bevor ich nach deinem Anruf in die Küche ging, um Kaffee zu machen, rief ich am Flughafen an, wohl wissend, daß es dafür noch zu früh war. Als ich dann den Tauchsieder in der Hand hielt, dachte ich an Vaters Tauchsieder. Mit diesem verbeulten Ding, Vater, pflegtest du dir dein Kaffeewasser zu machen, wenn du, lange vor uns anderen, aufgestanden warst, um noch ein, zwei Stunden Noten zu schreiben, bevor du ins Geschäft mußtest. Ich sehe dich in der Küche stehen, den schäbigen Topf in der Hand, umgeben von ausgesuchten italienischen Kacheln und einer endlosen Reihe von Pfannen und Töpfen aus blitzendem Kupfer.
    Maman hat ihn gehaßt, deinen Tauchsieder mit dem wackligen Griff. Wenn sie dich dabei überraschte, daß du ihn herausholtest, statt eine der beiden Kaffeemaschinen einzuschalten, ging sie wortlos hinaus. Es war wie mit der alten Füllfeder, die ebenfalls aus deiner Junggesellenzeit stammte. Maman hat dir im Laufe der Jahre sicher ein Dutzend der edelsten Füller geschenkt. Deine Partituren aber hast du alle mit der alten Feder geschrieben, deren Griff vom vielen Gebrauch matt und gräulich geworden war. Oder der uralte Geldbeutel, den du heimlich zum Sattler brachtest, statt ihn gegen eines der eleganten Portemonnaies auszutauschen, welche Maman dir aufdrängte. Stumm hast du dich mit solchen Dingen in einer Familie behauptet, in der du immer ein Fremdling warst.
    Weißt du, Vater, was mir als erstes durch den Sinn ging, kaum hatte ich in Santiago den Hörer aufgelegt? Deine heisere Stimme, wenn du über Erfolg sprachst. Es war dann, als streiftest du die alltägliche Stimme ab und schlüpftest in einen neuen, bedeutungsschweren Tonfall voller Geheimnisse. Etwa wenn du von Verdis, Puccinis oder Massenets Erfolgen sprachst und überhaupt vom Durchbruch, der jemandem gelungen war. Sie hatte viele Schattierungen, diese besondere Stimme. Ich weiß nicht warum, aber man wußte, auch wenn man eben erst dazugekommen war, sofort, ob du von einem Erfolg oder einem Mißerfolg sprachst. Der Klang verriet es, noch bevor man den Inhalt verstanden hatte. Es lag düsterer Triumph in deiner Heiserkeit, wenn die Rede von einem Großen war, dem der Erfolg bei einem später gefeierten Werk lange versagt geblieben war, wie Beethoven beim Fidelio . Wobei ich nie sicher war, ob der Triumph der späteren Anerkennung galt oder der Tatsache, daß auch Große manchmal lange auf sie warten müssen.
    Nichts jedoch glich derjenigen Tonlage, die du anschlugst, wenn es um deinen Helden ging, dem der Erfolg ein Leben lang versagt geblieben war: Cesare Cattolica. Es gab diesen einen Satz über ihn, den ich bei zahllosen Gelegenheiten von dir gehört habe: Niemand wollte seine Musik hören. Und jedesmal war es, als sagtest du: Niemand will meine Musik hören - ein Satz, den du nie ausgesprochen hast, dazu warst du zu stolz. NIEMAND wollte seine Musik hören. So sagtest du, wenn du traurig und verzweifelt warst. KEINER wollte seine Musik hören. So drücktest du dich aus, wenn Wut und Verbitterung dich beherrschten. Es war, als wendetest du dich mit dem Wort KEINER an jeden einzelnen und klagtest ihn an - als schrittest du eine endlose Front von einzelnen ab, vor die du der Reihe nach hintratest, um ihnen deine heisere Anklage entgegenzuschleudern. Dein Blick bekam eine hilflose Heftigkeit, der Haß beigemischt war, ein anonymer Haß, der keiner bestimmten Person galt. Du sahst in solchen Momenten niemanden an, sondern blicktest an allen vorbei, und in dem Blick lag Anklage, nein, eigentlich nicht Anklage, sondern etwas, was darüber hinausging, nämlich das mit Verachtung gepaarte Wissen, daß niemand der Anwesenden, ja überhaupt niemand außer Cattolica und dir, Vater, ermessen konnte, was das bedeutete: daß niemand die Musik hören wollte, die man geschrieben hatte. Die anderen, zu denen du sprachst, waren nur Publikum, Staffage für die verzweifelte Botschaft, von der dich niemand erlösen
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