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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Autoren: Christoph Marzi
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KAPITEL 1
    WASSER, SCHARLACHROT, GEFÄRBT MIT HIMMEL
    Die Welt ist wie Wasser, scharlachrot und sanft gefärbt mit hellem Himmel. Und manchmal sind die Träume, die sich tief in den vergessenen Liedern unserer Kindheit verbergen, wie die Pfade in den tiefen Wäldern, von jenem schweren Dunkel, das allein zu betreten man sich scheut, weil was dort schlummert, nur selten ist, was man zu finden hofft. Scarlet Hawthorne, die in einer stürmischen Winternacht durch die Straßen von Greenwich Village irrte, wusste nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn einem das Herz unversehens verstummt. Sie wusste genau, was rabenschwarze Angst ist. Doch alles andere hatte sie vergessen.
    Ich war auf dem Nachhauseweg von einem meiner nächtlichen Ausflüge, als ich sie traf, an einem mystischen Ort, wo eine Straße namens Waverley Place eine andere Straße namens Waverley Place kreuzt.
    Dichte Schneeflocken tanzten wie winzige Eisfliegen in der kalten Luft und verfingen sich in ihrem Haar, das so dunkel wie Ebenholz war, und trieben in dem Atem, der ihr wie
ein geheimnisvoller Schleier vor dem Gesicht hing. Sie lehnte sich für einen kurzen Augenblick gegen die hohe Backsteinwand eines der alten Häuser, das im Schatten der Kathedrale der heiligen Zita stand, schnappte nach Luft und schaute sich um wie jemand, der gefährliche Verfolger auf seinen Spuren wähnt.
    Sie stand still da, wie eine Puppe, so regungslos, und dann strauchelte sie und sank, mit dem Rücken zur Wand, zu Boden.
    Ich eilte ihr zu Hilfe.
    Und von diesem Moment an änderte sich mein Leben.
    Jetzt, kaum mehr als einen einzigen Tag und eine halbe Nacht später, ahne ich, dass Scarlet Hawthornes Schicksal ganz eng mit jenen rätselhaften Geschehnissen verwoben ist, jenen düsteren Begebenheiten, deren heimliches und todbringendes Wesen zu ergründen wir schon seit Wochen erfolglos versuchen.
    Nun beginnt alles einen Sinn zu ergeben. Die Scherben der Spiegel fügen sich langsam zu einem unvollständigen Bild, mit Rändern, so scharf wie Eis.
    »Was wird jetzt geschehen?«, fragt mein Gegenüber.
    Wir stehen vor einer Tür.
    »Was verbirgt sich dahinter?«, höre ich meine Begleiterin fragen.
    Solitaire – das ist es, was wir denken.
    Sonst nichts.
    Nur Solitaire .
    »Woher, in aller Welt, soll ich das denn wissen?«, stelle ich die Gegenfrage und drücke die rostige Klinke nach unten. Es kurzerhand auszuprobieren – war das nicht schon immer der einfachste Weg, um den Dingen auf den Grund zu gehen?
    Doch nein, halt – ich sollte den Geschehnissen nicht hastig vorauseilen wie der Herbstwind, der ungestüm im rostroten Oktoberland lebt. Ich sollte genau dort beginnen, wo die Geschichte tatsächlich ihren Anfang hat.
    Ich sollte da beginnen, wo alles wirklich begann.
    Seien Sie geduldig.
    Ja!
    Folgen Sie mir in die Stadt aller Städte, die neugeborene Metropole, deren Gebäude bis in den Himmel reichen und die schweren Wolken selbst berühren. Die endlose Stadt an den beiden Flüssen, die schon so viele Schiffe erblickt haben. Sie ist ein lebendiges Wesen, das aus vielen Stimmen geboren, auf einer Vergangenheit aus Träumen errichtet wurde. Die Metropole, die viele Namen hat: Neu Amsterdam, New York und, allen voran, natürlich: Gotham. Ein Flickwerk aus den staubigen uralten Metropolen der alten Welt, voller Farben, Lieder, Erinnerungen.
    Ja, all die Erinnerungen an das, was einst war, und an das, was erst noch sein wird.
    Denn auch unsere Geschichte beginnt, wie so viele andere Geschichten vor ihr, mit einer Erinnerung. In diesem Fall ist es sogar nur eine einzige Erinnerung, eine kümmerliche Notiz, die hilflos im Wind weht, verloren und ohne Ziel. Etwas, was noch vage da ist, wenn man aus dem Schlaf erwacht, was den Winter erahnen und einen sich händeringend nach dem Herbst mit seinen bunten Blättern und Sonnenstrahlen zurücksehnen lässt, kaum mehr als ein Bild, doch so klar und deutlich, dass man es fast riechen kann.
    Scarlet Hawthorne, die außer ihrem Namen und den wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich trug, kaum etwas besaß, öffnete die Augen und sah auf die dunkle Fläche des Hudson
River – dorthin, wo in der nahen Ferne Mylady Liberty ihre glühende Fackel der Nacht entgegenreckte.
    Die junge Frau stand am Rande des Battery Parks und bewegte sich kaum. Sie konnte die Silhouetten der Kanonen erkennen, die einmal die Stadt verteidigt hatten und die jetzt kaum mehr als eingerostete Attrappen waren. Ein Wind, der nach der fauligen Tiefe der weiten See
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