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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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solle als letztes drankommen. Gegen Mittag kamen die Leute vom Klaviertransport und standen in blauer Arbeitskleidung um den glänzenden Steinway herum. Da geschah etwas mit mir, und ich schickte sie wieder weg. Dann gab ich Anweisung, was sonst noch dableiben sollte. Dem Möbelhändler sagte ich, er werde, wie vereinbart, auch die restlichen Sachen bekommen; nur jetzt noch nicht. Von Anfang an muß ich gespürt haben, daß ich hier noch nicht fertig bin. Daß ich Vater noch etwas schulde.
    Eigentlich müßte ich jetzt im Flugzeug nach Santiago sitzen, und es stört mich, daß du mich über dem Ozean wähnst, während ich in Wirklichkeit hier an Vaters Schreibtisch sitze. Anrufen aber wäre gegen die Abmachung.
    Als du heute morgen aus meinem Blickfeld verschwunden warst, konnte ich es kaum erwarten, den ersten Satz zu schreiben. Den Stift aufs Papier zu setzen, um zu dir zu sprechen, das würde verhindern, daß das unsichtbare Band zwischen uns zerrisse wie beim ersten, sprachlosen Abschied. Zumindest vorläufig würde es das verhindern. Jede Minute, die verstrich, ohne daß ich begonnen hatte, erschien mir bedrohlich. Doch dann fuhr der Möbelwagen vor, und ich hatte anderes zu tun.
    Später ging ich in die Papeterie. Es sollten keine losen Blätter sein, auf denen ich unseren Pakt des Erzählens erfüllte, sondern Hefte. Das war im Flugzeug praktischer. Was ich mir nämlich vorstellte, war, während der sechzehn Stunden Flug ununterbrochen zu schreiben. Nur so wäre das Geräusch der Motoren erträglich, die mich unaufhaltsam von dir wegtrieben. Mit jedem Satz, den ich über uns schrieb, würde ich die Triebwerke und die äußerliche Distanz, die sie zwischen uns legten, verspotten. Nie wieder wollte ich eine Nacht erleben wie auf dem ersten Flug. Deshalb war es wichtig, daß mir auf keinen Fall das Papier ausginge. Ich nahm drei Hefte aus dem Regal, dann noch zwei. Schon draußen, kehrte ich um und kaufte weitere fünf dazu. Ich würde auf dem Flug nicht zehn Hefte füllen; das war es nicht. Was ich sicherstellen wollte, war, daß die Hefte bis zum Ende meines Berichts die gleichen blieben. Diese Gleichförmigkeit war - so kam es mir vor - ein Mittel, um mich gegen einen Abbruch unseres Gesprächs zu schützen. Auch wäre es gut, in Santiago einen Stoß von Heften zu haben, die aus der Papeterie stammten, in der wir beide über viele Jahre unsere Schreibwaren zu kaufen pflegten. Und so liegt jetzt ein Stoß von neun Reserveheften in der Schublade von Vaters Schreibtisch.
    Noch während die Schritte der Möbelpacker im leer werdenden Haus hallten, begann ich zu schreiben. Die Männer, die vergeblich auf das Bier warteten, machten sich in halblauten, unwirschen Sprüchen lustig über mich, der ich dasaß, als ginge mich das Ganze nichts an. Auch Baranski, der Makler, der zur Schlüsselübergabe gekommen war, wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Kaum hatte ich ihn hereingelassen, setzte ich mich an den Schreibtisch und nahm den Stift zur Hand, ungeduldig auf den Moment wartend, wo ich würde weiterschreiben können. Er habe schon zwei Interessenten an der Hand, sagte er, die ein Haus zum 1. Dezember suchten, und vorher müsse ja noch renoviert werden. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Vorläufig keine Besichtigungen, sagte ich ungeduldig. Und unser Vertrag? Vorläufig keine Besichtigungen, wiederholte ich. Was das denn hieße:«vorläufig»? Das könne ich ihm vorläufig nicht sagen, war meine Antwort. Die Reifen quietschten, als er abfuhr. Kaum war der letzte Möbelpacker durch die Tür, schloß ich zweimal ab. Ich habe mich unmöglich benommen. Es wird noch Ärger geben.

    Ich denke zurück an jenen Anruf von dir, der das zerbrechliche Gehäuse meines neuen Lebens zum Einsturz bringen sollte. Wie unwirklich es war, aus dem Schlaf gerissen zu werden und im Rauschen der transatlantischen Leitung deine Stimme zu hören! «Ici Patricia» , sagtest du, als ich abnahm, und nicht wie früher «C’est moi» . Als ob ich deine Stimme nicht in jedem Augenblick und unter allen Umständen erkennen würde.
    Dein Bericht war von atemloser Sachlichkeit. Anders als früher hätte ich deine Worte nachher nicht wiederholen können. Sie versanken in der Betäubung, die mich schon nach den ersten Sätzen umfing. Nur die nackten Informationen behielt ich: Antonio di Malfitano während einer Aufführung von Tosca erschossen. Vater im Gefängnis. Maman sei dabeigewesen, sage aber nichts. Und dann der Schluß des
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