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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Gesprächs, nachdem es eine Weile still gewesen war:«Patrice?»«Ja.»«Du wirst doch kommen?»«Ja», sagte ich,«ich komme.» «A bientôt.»«A bientôt.» Ich war froh, daß du bereit warst, unsere gewohnten Worte des Abschieds zu tauschen. In diesem Augenblick war es wie früher. Ich konnte es kaum erwarten, dich wiederzusehen. Und ich habe noch nie vor etwas solche Angst gehabt.
    Ich konnte es nicht glauben. Das würdest du niemals tun, Vater, dachte ich und wiederholte es mir in den nächsten Stunden hundertfach, laut und leise. Nicht Antonio di Malfitano, den Mann, dessen Stimme du vergöttert hast. Und gewiß nicht auf offener Bühne, die für dich wie ein Heiligtum war. Die Stimme zu vernichten, die du beim Schreiben deiner Partituren ständig im Ohr hattest: Das ist unvorstellbar.
    Es kam mir damals ganz natürlich vor, Vater in Gedanken auf diese Weise anzusprechen. (Wobei es mir wichtig war, ihn Vater zu nennen und nicht Papá , wie du es - stets mit der französischen Betonung - zu tun pflegtest.) Erst im Laufe der folgenden Stunden wurde mir klar, daß ich es so noch nie getan hatte. Es war, das spürte ich allmählich, eine ganz neue Art, ihm zu begegnen. Es war eine Befreiung, darauf gekommen zu sein, und ich war verwundert, daß es der gespenstischen Nachricht von seiner undenkbaren Tat bedurft hatte, um mir diese Möglichkeit zu eröffnen. Jetzt, wo ich dir darüber berichte und die Worte, die ich damals an ihn richtete, nachträglich aufzeichne, habe ich das sonderbare Gefühl, Vater damit näher zu sein als früher, wenn ich bei ihm war. Richtig erklären kann ich es mir nicht. Vielleicht war es seine Aura der Einsamkeit, die mich vorher daran gehindert hatte, ihm so unmittelbar zu begegnen. Es ist, als müsse ich erst seine einsame Anwesenheit vergessen, um ihn mit meinen Gedanken ganz zu erreichen. (Wir alle haben - so kommt es mir nun vor - stets über ihn geredet statt zu ihm. Es klingt verrückt, aber ich möchte hinzufügen: Das war selbst dann so, wenn wir ihn, äußerlich gesehen, direkt angesprochen haben.)
    Ich vermisse dich, Vater. Als ich damals verwirrt und ungläubig den Hörer auflegte, war es in Chile noch mitten in der Nacht, während für dich bereits der erste Tag hinter Gittern begonnen hatte. Du in Handschellen, dachte ich. Wie konnten sie das tun! Ich sah, wie die stählernen Ringe über deinen breiten Handgelenken zuschnappten, und hörte das Klicken. Wie ich dich kenne, sagte ich zu dir, wirst du kein Wort gesprochen haben, und auf deinem Gesicht wird jenes Lächeln erschienen sein, mit dem du der feindlichen Welt stets begegnet bist - jenes Lächeln, das Gygax, der Heimleiter, nicht ausstehen konnte. Das arroganteste Kinderlächeln, das ich kenne. Wie oft hast du diesen grausamen Ausspruch von ihm zitiert. Ich sehe, fuhr ich fort, das besondere Glitzern in deinen Augen, das wir geliebt und gefürchtet haben, Patty und ich. Diese Augen, sie wirken stets, als würdest du sie eine Spur zusammenkneifen, und zusammen mit den schmalen Lippen, die immer auf dem Sprung sind, sich zu einem spöttischen Lächeln zu büscheln, geben sie dem Gesicht den Ausdruck einer fortwährenden ironischen Distanz zu allem. Es ist, als würdest du das Gesicht stets ein bißchen nach vorne schieben, und dieses Schieben kommt nicht vom Hals, überhaupt kommt es nicht von etwas Körperlichem, es kommt aus deinem Inneren, aus derselben Quelle wie das Glitzern in den Augen. Allen, die dich nicht kennen, erscheinst du dadurch wie einer, der die Welt von einem inneren Hochsitz aus betrachtet.
    Und doch könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Patty und ich, wir pflegten zueinander zu sagen: Er weiß es nicht, aber durch dieses Schieben des Gesichts und den oft überwachen Blick versucht er in jedem Augenblick, den Startnachteil auszugleichen, den er als Waisenkind hatte. Was an diesem Gesicht arrogant erscheinen mag, enthält in Wirklichkeit die Botschaft: Ich war im Hintertreffen, und damals, als Kind, konnte es scheinen, als würde ich es nie schaffen. Aber ich habe aufgeholt, und nun bin ich hier und weiß über Musik alles. Das soll mir einer nachmachen. Ihr, die ihr das bessere Los gezogen habt, wißt nichts von der Anstrengung und den Demütigungen, die hinter mir liegen.
    Erst als dieses lautlose Gespräch mit Vater zu Ende war, machte ich damals Licht. Die Wohnung kam mir mit einemmal fremd vor, obwohl ich schon vier Jahre dort gelebt hatte. Dein Anruf, Patty, er hatte eine alte
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