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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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kannten wir diesen Blick von dir, Patty und ich sahen beklommen weg, und in Mamans Augen war Überdruß zu lesen.«Die ist zu groß», sagte sie einmal, kaum hattest du die Schachtel in Augenschein genommen. Du standest da wie geohrfeigt: daß man dich so erraten konnte.
    Meistens kamen die Pakete mit den abgelehnten Partituren, während du im Geschäft warst. Maman nahm sie in Empfang und legte sie dir auf den Schreibtisch. Schon als Knirps spürte ich, daß es mit diesen Paketen etwas Besonderes auf sich hatte; daß es ungut, ja gefährlich war, wenn sie kamen. Es war, als ginge von ihnen eine Strahlung aus, welche die Atmosphäre vergiftete. Eine bedrückende Stille lag dann über allem, du erschienst nicht zum Abendessen, und wenn wir dich holen wollten, wurden wir zurückgepfiffen.
    Später, als wir mehr verstanden, entwickelten wir einen sechsten Sinn: Kaum hatten wir, von der Schule kommend, die Genfer Wohnung und später dieses Haus hier betreten, wußten wir, daß es wieder einmal soweit war; wir brauchten dazu nicht einmal Mamans Gesicht zu sehen. Ich habe keine Ahnung, woran es lag, aber wir wußten es. Wenn wir dann einen Blick in dein Arbeitszimmer warfen, lag es regelmäßig da, das gefürchtete Paket. Und auch du schienst es schon im voraus zu ahnen: Dein Gang ins Arbeitszimmer war an solchen Tagen steifer und hektischer, dein Gesicht verschlossen, als müßtest du all deine Kraft versammeln, um der neuerlichen Enttäuschung zu trotzen, die dich hinter der Tür erwartete, vor der du einen Moment länger stehen bliebst als sonst, es war ein leises, winziges Stocken, das nur derjenige wahrzunehmen vermochte, der die Vorahnung mit dir teilte.
    Manchmal kamen die Pakete während der Schulferien, wenn auch du dir freigenommen hattest. Du trugst sie stets unter dem linken Arm, nie anders, nie mit beiden Händen. Es hatte etwas so Bitteres und Gedemütigtes, dieses Tragen. Und wie du zu dem Postboten «Merci» sagtest: mit der unterwürfigen und doch auch trotzigen Biederkeit, die nur ein Deutschschweizer in dieses Wort hineinlegen kann. Damit muß ich allein fertig werden, sagte dein Ton, Sie persönlich können natürlich nichts dafür, andererseits gehören auch Sie zu der Welt draußen, in der man meine Musik nicht hören will … Es war entsetzlich, Vater. Und jedes weitere Mal noch ein bißchen entsetzlicher.
    Mit verzweifelter, hohler Geschäftigkeit holtest du die große Schere aus dem Schreibtisch. Aus unerfindlichen Gründen spanntest du die Schnur zusätzlich an, so daß es einen dumpfen Knall gab, wenn sie zerschnitten wurde. Dann durchtrenntest du das Klebeband, faltetest das Papier und den Karton auseinander - alles so routiniert, als lägen schon Tausende von Absagen hinter dir. Aus der anhaltenden Geschäftigkeit und Energie hätte man beinahe schließen können, daß du, entgegen aller Erfahrung, trotz der Rücksendung mit einer positiven Antwort rechnetest. Die Verpackung stopftest du in den Papierkorb zu den zerknüllten Notenblättern. Mit scheuem, verhaltenem Stolz bliebst du vor der gebundenen Partitur stehen und legtest die Hand darauf ohne zu blättern. Erst jetzt setztest du dich hin und machtest den Begleitbrief auf.
    Ich werde nie vergessen, wie versteinert dein Gesicht war, während der Blick über die Zeilen eines förmlichen Absagetexts glitt. Es mußte die Festigkeit von Fels haben, dieses Gesicht, um der Enttäuschung standhalten zu können, die so vertraut war und dir trotzdem so weh tat wie beim erstenmal. Langsam faltetest du den Brief wieder zusammen, tatest ihn zurück in den Umschlag und - ich zuckte zusammen - warfst das Ganze mit erbitterter Beiläufigkeit in den Papierkorb. Dann zündetest du dir eine Zigarette an, griffst zur Feder und schriebst an der Partitur weiter, die gerade in Arbeit war. All dies habe ich im Laufe der Jahre nur zwei- oder dreimal beobachtet. Aber ich weiß, daß alles immer auf die genau gleiche Weise geschehen ist. So warst du.
    Es war unmöglich, dich zu trösten, Vater. Ich meine es in den Gliedern zu spüren, wie ich zu dir gehen und dich berühren wollte. Ich probierte es innerlich aus: wo und wie ich neben dir stehen würde; ob ich dir den Arm um die Schulter legen oder dir übers Haar fahren könnte; was für Worte sich sagen ließen. Am liebsten hätte ich gesagt: Nimm das Urteil der anderen nicht so wichtig; du schreibst deine Musik doch vor allem für dich selbst. Als Feststellung stimmte das natürlich nicht; ich hätte es als
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