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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Vaters Fragen zu suchen. Wenn er dann aufbrach, fanden sie es schade und luden ihn ein wiederzukommen. Er kam nie wieder. Man stand, wenn Vater gegangen war, linkisch herum wie sonst nie, niemand sagte viel, es fanden sich plötzlich ungewohnt viele Freiwillige für den Abwasch, und nachher ging man leise in die Zimmer.
    Wir haben dir die früher vermißte Familie nicht ersetzen können, Vater. Das habe ich gewußt. Niemand hätte das gekonnt. Daß wir es aber so wenig verstanden haben, dir die Einsamkeit zu nehmen, daß du Wildfremden solche Fragen stellen mußtest! Es scheint, wir haben das Ausmaß deiner Einsamkeit nicht einmal geahnt.
    Noch auf eine andere Weise kannte man Vater: als den Mann, der im Foyer der Hochschule stand und die Ankündigungen studierte. Gelegentlich saß er in einer Vorlesung oder kam zu einem Konzert der Studenten. Daß er komponierte, hat er niemandem erzählt. Stets wirkte er wie einer, der nicht dazugehört, aber gern dazugehören würde.
    Juliette Arnaud gehört auch zu denen, die Vater beim Kauf eines Klaviers beraten hat. Die Familie Arnaud muß, als er zum Stimmen kam, sonderbar berührt gewesen sein von Vaters Art. Viel sagte Juliette darüber nicht, aber ich kann es mir zusammenreimen: Scheu, langsam und ein bißchen komisch muß er ihnen vorgekommen sein. Er erinnere sie an Buster Keaton, habe Madame Arnaud bemerkt. Auch Juliette hatte keine Ahnung, daß Vater komponierte. Sie ist von dem Gedanken fasziniert, das geheime Leben dieses scheuen Mannes kennenzulernen. Leider kann sie erst am Freitag kommen. Ich kann es kaum erwarten.

    Es ist noch keine zwei Wochen her, daß du mich in Santiago anriefst. Wir haben uns beeilt mit allem. Verpflichtungen, sagten wir, Verpflichtungen in Paris, Verpflichtungen in Santiago. Nach der Art dieser Verpflichtungen haben wir uns nicht gefragt. War es, daß wir uns nicht trauten? Oder war es, daß wir nicht fragten, um nachher nicht selbst gefragt zu werden?
    Sie tat weh, diese Zurückhaltung, denn sie gab unserem Gespräch, wenn es um Termine ging, etwas Förmliches. Und sie läßt eine Frage entstehen, die ich nicht vorhersah, als wir unser Bündnis des Erzählens schlossen: Wird mein neues Leben in Santiago in meinem Bericht vorkommen? Darf es? Soll es? Oder war dein Vorschlag anders gemeint: daß wir nur aufschreiben, wie es uns in den ersten neunzehn Jahren unseres Lebens miteinander ergangen ist - bis zu jener Nacht, die alles zerstörte?
    Wie wir diese Frage beantworten, wird für den anderen, den Lesenden, einen großen Unterschied machen. Was wird sein, wenn wir sie verschieden beantworten und also unterschiedlich viel preisgeben? Und uns das bei unserem Treffen sagen? Wie wird es dann im Bistro sein?

    Nach deinem unwirklichen Anruf damals versuchte ich den ganzen Vormittag vergeblich, für denselben Tag eine Flugverbindung nach Frankfurt zu bekommen. Ich war bereit, die unmöglichsten Umwege zu fliegen, aber es war nichts zu machen. Schließlich buchten sie mich auf den Mittagsflug des nächsten Tages über Buenos Aires. Es wurden vierundzwanzig lange Stunden. Oft war ich versucht, die Berliner Nummer zu wählen, die ich immer noch auswendig wußte. Es drängte mich, mehr zu erfahren. Was du berichtet hattest, ergab einfach keinen Sinn; es kam mir vor wie das Allerunwahrscheinlichste, das im Universum passieren konnte. Es schien mir schlechterdings keine mögliche Geschichte zu geben, die das Geschehene verständlich machen konnte. Doch ich legte den Hörer immer wieder auf die Gabel zurück, bevor es bei euch klingelte. Ich fürchtete mich davor, Mamans Stimme zu hören, und auch vor dem Klang, den deine Stimme vorhin gehabt hatte, schreckte ich zurück.
    Ich ging zur Bank und räumte mein Konto leer. Damals, vor sechs Jahren, hatte ich in der Bank am Mexikoplatz gestanden und mein Sparbuch aufgelöst. Es war nur wenige Stunden her, daß du Adieu gesagt hattest, und ich war noch gefühllos vor Entsetzen. Unschlüssig stand ich später am Flughafen und betrachtete die Kreditkarte, die ich kurz zuvor zum Abitur bekommen hatte. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sie einzuweihen. Ich habe sie unbenutzt vernichtet, Maman. Du hättest die Abrechnung erhalten, und ich wollte nicht, daß du noch irgend etwas über mein weiteres Leben erführest. Nicht einmal das Land solltest du kennen, in das ich geflohen war.
    Im Reisebüro hatte ich offengelassen, ob ich die Karte für den Rückflug auch gleich kaufen würde. Auf ein Datum wollte ich mich
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