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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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hinausschieben.
    Paco: Das war es, was mit dem Gedanken, nie wieder nach Santiago zurückzukehren, nicht stimmte. Ich konnte ihn doch nicht einfach im Stich lassen, den Jungen, den ich ein Stück weit aus sich herausgelockt hatte, weiter, als das einem Menschen jemals zuvor gelungen war.
    Jemand hatte ihn auf den Stufen der Kinderklinik ausgesetzt. Um den Hals trug er ein Stück Karton mit dem Namen: PACO. Seine Kleider strotzten vor Schmutz, und sein Körper hatte monatelang kein Wasser gesehen. Als sie ihn gewaschen hatten, sahen sie, daß sein Körper mit Striemen übersät war, die von einer Unzahl von Schlägen zeugten. An manchen Stellen waren daraus eiternde Wunden geworden. Gehen konnte er nur mühsam, die Mißhandlungen hatten eine Hüfte beschädigt. Er wird immer ein bißchen hinken und besondere Schuhe tragen müssen. Als ich ihn kennenlernte, hatte er im Alter von fünf Jahren noch kein einziges Wort gesprochen.
    Das erste Mal habe ich ihn durch einen Gitterzaun gesehen. Es ist ein grobmaschiger Zaun, der einen Kinderspielplatz gegen eine vielbefahrene Straße sichert. Beim Zaun blieb ich stehen, weil mir der gelbe Sand gefiel, mit dem der Boden des Spielplatzes bedeckt war. Ich trat dicht an den Zaun, legte die Hände auf ein Stück des Gitters und sah den spielenden Kindern zu, die von einer Gruppe von Frauen beaufsichtigt wurden. Paco fiel mir auf, weil er sich abseits von den anderen hielt und ganz in sich versunken wirkte. ( Ensimismado, würde man im Spanischen sagen. Ist das nicht ein wunderbares Wort?) Er war vollkommen still inmitten der lauten Kinder, eine Insel der Stille. Der Lärm der Welt, so schien es, drang nicht zu ihm durch, und diese Undurchdringlichkeit, diese Unberührbarkeit durch Geräusche, übertrug sich auf mich, den Betrachter. Ich fühlte mich so still, wie es in ihm sein mußte.
    Plötzlich hob er den Kopf und sah mich an. Einem Blick wie diesem war ich noch nie begegnet. Es war nicht der gewöhnliche Blick eines Kindes, der einen in Verlegenheit bringen kann, weil er so direkt und ohne jede Scheu ist. Pacos Blick haftete etwas Widersprüchliches, Gespaltenes an: Er war draußen bei mir und gleichzeitig ganz zurückgenommen, gewissermaßen eingeschlossen in diesem Kind. Es war schwer, ihm standzuhalten. Ohne die Augen von mir abzuwenden, machte der Junge einige Schritte auf mich zu, und nach einer Weile noch ein paar Schritte. Nun war er nur noch zwei, drei Meter von mir entfernt. «¡Hola!» sagte ich, «¿cómo te llamas?» Keine Antwort, nur immerzu dieser gerade, rätselhafte Blick, in dem sich Neugier und Mißtrauen zu mischen schienen. Jetzt erhob sich eine Frau von der Bank und kam mit raschen Schritten auf uns zu. Sie musterte mich mit einem durchdringenden Blick, ergriff wortlos Pacos Hand und führte ihn weg. Ich kam mir ertappt vor, ohne zu wissen wobei.
    Erst jetzt, als ich die Hände vom Gitter löste, bemerkte ich die rote Farbe. Jemand hatte dieses Stück Draht kürzlich rot angestrichen, ohne daß man darin einen Zweck hätte erkennen können. Nun klebte ein Teil der Farbe an meinen Händen, und beim Versuch, sie abzuwischen, drückte ich sie nur noch tiefer in die Rillen der Handfläche hinein. Es war eine hartnäckige Farbe, klebrig wie Teer, und es dauerte Tage, bis ich sie ganz los war. Jedesmal, wenn ich die Hände wusch, dachte ich an Paco und seinen Blick.
    Eine Woche nach der ersten Begegnung ging ich wieder beim Spielplatz vorbei. Es war dieselbe Stunde, und Paco war wieder da. Dieses Mal kniete er auf dem Boden und ließ den gelben Sand durch die Finger laufen, bedächtig und immer von neuem. Als er mich bemerkte, hielt er inne, und seine Finger schlossen sich um den Sand. Er stand auf und kam mit zögernden Schritten auf mich zu, die Faust fest um den Sand geschlossen. Doch statt so weit zu kommen, daß er mir, wie beim erstenmal, gegenübergestanden hätte, blieb er ein Stück links von mir stehen und schüttelte den Kopf. Ich verstand nicht und sah ihn mit einer fragenden Geste an. Wieder schüttelte er den Kopf, sonst nichts. Noch immer verstand ich nicht. Jetzt hob er demonstrativ den Kopf und blickte starr geradeaus. Ich folgte seinem Blick, und da wurde mir klar, worum es ging: In der Linie seines Blicks lag die rote Stelle des Zauns. Ich ging die paar Schritte nach links und hielt die Hände zunächst berührungslos über die Farbe. Paco wartete gespannt. Schließlich umschloß ich mit den Händen den roten Draht, auf dem noch meine Spuren
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