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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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(Neugier: die Kraft, sich gefangennehmen zu lassen von Fremdem und dadurch frei zu werden von der Last rückwärts gewandter Empfindungen.) Doch bis jetzt war auch die Neugierde stets unsere gemeinsame Neugierde gewesen, und wenn uns etwas in Abwesenheit des anderen neugierig gemacht hatte, dann wandten wir uns ihm zu, um es nachher erzählen zu können. Nun gab es diese Möglichkeit nicht mehr - was sollte ich da neugierig sein? Jede Straße, jedes Gebäude, jeder Platz war zunächst einmal etwas, das du nicht sahst und das ich dir nicht würde beschreiben können.
    Ich kaufte eine Kamera. Ich zwang mich, genau hinzusehen. Vielleicht ließ sich die Stadt dadurch zum Leben erwecken. Die Filme brachte ich nie zum Entwickeln, sie begannen sich zu stapeln. Die Bilder waren für deine Augen bestimmt, diese Augen aber waren in unerreichbarer Ferne. Und selbst wenn du sie eines Tages betrachten solltest: Sie wären für dich ganz anders als für mich, Abbildungen einer fremden Stadt, weiter nichts. Du würdest jedes einzelne Bild lange betrachten, länger als man fremde Aufnahmen sonst betrachtet. Du würdest Einzelheiten erwähnen, um mir zu zeigen, wie sehr du versuchtest, sie auch zu deinen Bildern zu machen. So wie du stets versucht hast, mir über Trennendes hinwegzuhelfen. Helfen würde es nichts.
    Manchmal trat ich ganz dicht an Häuser heran und fuhr mit den Händen den Stein entlang. Nicht so sehr, um mich ihrer Wirklichkeit zu versichern. Eher war es der Versuch, die quälende Distanz zu den Dingen zu überwinden und in diesem Land endlich anzukommen. Es gab Leute, die mich für blind hielten und mir ihre Hilfe anboten.
    Ganze Tage lang ist es mir vorgekommen, als sei ich nicht aus freien Stücken, sondern im rätselhaften Banne eines anderen hierhergereist, und nun hielte mich seine Schwerkraft in dieser Stadt fest. Nachts, wenn ich wach lag, dachte ich: Ich habe nicht hierherkommen wollen, ich bin kein Weltreisender.
    Ich fühlte mich von der eigenen Seele verlassen. Nur im Traum, wenn ich vergaß, wo ich war und daß dies ein Ort ohne dich war, erhaschte ich manchmal einen Blick auf sie. Doch kaum war dieses träumende Vergessen vorbei, hatte ich mich wieder ganz und gar verloren. Ich war mir so fremd wie jemand, der unter vollständiger Amnesie leidet.
    Ich versuchte, meiner Erstarrung Herr zu werden, indem ich so genau wie möglich aufschrieb, wie es mir ging. Es half nichts. Es waren immer wieder die gleichen Sätze. Das war fürchterlich: zu erfahren, daß mir die Sprache mit einemmal nicht mehr zum Leben verhalf.
    Losgeworden bin ich diese Erstarrung nie. Es schien nur so, weil mein Leben durch die spätere Arbeit einen äußeren Rahmen bekam. Ich gewöhnte mich an die Erstarrung und achtete seltener darauf. Ich hatte bis dahin nicht gewußt, daß einen Gefühle, auch die stärksten, nach einiger Zeit langweilen.
    Niemand hatte mir gesagt, daß Einsamkeit eine körperliche Empfindung sein kann wie Hunger, Durst oder Ekel. Niemand hatte mir gesagt, daß sie zu einem Gefühl werden kann, das einen gefangenhält, obgleich man es nicht mehr spürt. Einmal, als ich sie wieder spürte, versuchte ich mich zu erinnern, wie es gewesen war, als ich mich nicht einsam fühlte. Ich hatte es vergessen. Darüber geriet ich in Panik.
    Ich werde nicht nach Santiago zurückkommen, dachte ich an jenem Nachmittag vor der Abreise, als mich diese Erinnerungen überspülten und fortrissen. Allenfalls, um die Wohnung zu kündigen und die wenigen Habseligkeiten zu verkaufen. Ich ging ins Inca de Oro, mein Stammcafé. Ich versuchte, dort als einer zu sitzen, der für immer Abschied nimmt. Ich wartete darauf, daß ein großer innerer Druck von mir wiche, wie wenn man etwas endlich überstanden hat. Nichts geschah. Da wußte ich, daß etwas nicht stimmte.

    Wieder bin ich von dem blendenden Licht aufgewacht, das durch die nackten Fenster in Vaters Zimmer fiel. Die Fensterläden hatte ich in der Nacht aufgemacht, weil ich mich in der dumpfschwarzen, lichtlosen Atmosphäre, die entstanden war, eingesperrt fühlte. Ich zog den Mantel über den Kopf, um weiterschlafen zu können, aber es half nichts. Daraufhin ging ich los und kaufte blaue Bettlaken als Ersatz für Gardinen. Sie hängen jetzt vor den Fenstern, so daß im Raum ein kühles Dämmerlicht herrscht, das meinem übermüdeten Kopf guttut. Ich habe wenig geschlafen. Als ich um Mitternacht zu schreiben aufhörte, wußte ich: Jetzt muß ich Paco anrufen, länger darf ich es nicht
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