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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
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nicht entgangen sein konnte. Sie wandte sich ab und ging ohne Antwort aus dem Zimmer.
    *
    Als Malti und der Vaid im Dorf ihrer Eltern eintrafen, rannte die ganze Familie freudig erregt und auch etwas überrascht aus dem Haus. Das Erstaunen wuchs, als nur der Vaid ausstieg und die Familie ins Haus zurückführte, während Malti im Wagen blieb.
    Selbst durch die geschlossenen Scheiben hörte sie das laute
Weinen ihrer Mutter. Ihr Bruder riss die Wagentür auf, zog sie heraus und rannte mit ihr hinter das Haus und in die Felder, wo niemand sie belauschen würde.
    Raja musterte die dunklen Ringe unter den Augen seiner Schwester und ihren sich rundenden Bauch. Er drückte sie an sich. Sie erwiderte die Umarmung erst, als er ihr mit der Hand übers Haar strich, wie er es getan hatte, als sie Kinder waren.
    »Du hättest doch mit mir reden können. Du hättest es mir sagen müssen.« Seine Stimme war rau vor Wut und innerer Bewegung.
    Maltis Augen füllten sich mit Tränen. »Ich dachte, du würdest mich nicht verstehen. Ich dachte, niemand würde mich verstehen. Es ist alles meine Schuld.«
    Raja nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände: »Du bist meine Schwester. Ganz gleich, was geschieht. Ganz gleich, was du tust. Ich bin dein Bruder.«
    »Wie geht es Ma?«
    »Sie regt sich furchtbar auf. Überlass das ruhig Anju.«
    »Und Vater? Wird er mir verzeihen? Die Schande.«
    »Du weißt, wie sehr er dich liebt. Ich kümmere mich schon um ihn.«
    »Ich wäre lieber gestorben, als ihnen diese Schande zu bereiten.«
    Raja schüttelte sie. »Wie kannst du so etwas sagen? Haben wir denn kein Recht, dir beizustehen? Dir und deinem Kind? Warum hast du mir nichts gesagt?«
    »Dir was gesagt? Dass mein Mann mich hasst und mich verletzt hat? Oder dass ich mich einem anderen zugewandt habe?«
    Raja trat einen Schritt zurück, als ihre Worte ihn trafen. Wie ein harter, schneller Schlag in den Unterleib.
    »Ich bin dein Bruder.«
    »Ja. Und ich bin eine Hure.«
    »Malti, wenn du jemals wieder so etwas sagst, schütte ich dir selbst eine Dose Benzin über den Kopf.«
    Erschrocken sah Malti ihn an. Dann prusteten sie los. Sie lehnte sich an Raja, wie sie es als Kind getan hatte. Sie schaute über die Felder. Einige waren grün, andere kahl. Sie sahen genauso aus wie früher. Nur sie hatte sich verändert.
    »Wirst du bei uns bleiben?«
    »Und Ma …« Ihre Stimme brach. »Meinst du, Ma will mich noch?«
    »Wie kannst du das fragen?«, versetzte Raja streng. Er seufzte. »Wir hätten dich beinahe verloren.«
    »Weißt du, ich dachte, ich würde das Kind hassen. Es war das letzte, was ich wollte. Aber dann, als er mich geschlagen hat, war das Baby das Einzige, woran ich dachte. Ich musste es retten. Alles andere war mir egal.«
    Rajas Hand umschloss ihren Arm. »Dann sprich nie wieder über das, was geschehen ist. Nie. Damit es dem Kind nicht schaden kann. Verstehst du?«
    »Ich will nicht lügen.«
    »Du sollst auch gar nicht lügen. Nur schweigen, bis dein Kind alt genug ist, um die Wahrheit zu erfahren. Nicht um deinetwillen, Malti, nur um das Kind zu schützen.«
    Malti nickte. »Ich bleibe eine Weile hier und gehe dann vor der Geburt zurück. Ganga Ba hat mir angeboten, in ihrem Anbau zu wohnen. Ich möchte in Hastinapore bleiben, bis alles geregelt ist. Ganga Ba kennt sich mit diesen Dingen besser aus als wir. Sobald ich weiß, welche Möglichkeiten es gibt, gehe ich fort und fange neu an. Doch im Augenblick habe ich keine Wahl.«
    »Das habe ich nicht gemeint. Dein Platz ist hier bei deiner Familie. Nicht im Anbau irgendeiner reichen Frau.« Raja richtete sich auf und scheuchte die Fliegen auf, die es sich auf dem Rücken seines Hemds gemütlich gemacht hatten.
    »Es wäre nicht richtig unseren Eltern gegenüber, Raja. Du weißt, was die Leute reden werden. Ich will es ihnen nicht noch schwerer machen. Außerdem will ich auf eigenen Füßen stehen, wenigstens eine Zeitlang und ein paar Monate nicht Tochter,
Schwester oder Ehefrau sein. Nur ich selbst. Ich will herausfinden, was ich mit meinem Leben anfangen kann.«
    *
    Kalu traf nachts in Maltis Elternhaus ein, nachdem er ohne Pause gefahren war. Er sorgte dafür, dass er und der Vaid in der nächstgelegenen Herberge Unterkunft fanden, statt in dem bereits überfüllten Haus. Der Vaid hatte bereits mit der örtlichen Polizei gesprochen. Er wollte ein paar Tage in der Nähe bleiben, falls es Schwierigkeiten geben würde. Er hatte zu viele Fälle erlebt, in denen junge Heißsporne zu Ende
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