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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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Peitsche. Der steile Pfad war von tausend
eifrigen Füßen so matschig geworden, dass er oft ausrutschte, auf den Knien
zwei Schritte zurückrutschte, die Hände in den Boden grub und mühsam wieder auf
die Füße kam. Als er endlich die Kirche erreichte, war er von Kopf bis Fuß mit
Matsch bedeckt. Matsch sprühte auch von der Peitsche, wenn seine Hand sich
bewegte. Selbst mit der Wolle in seinen Ohren und der Hose um seine Stirn
schüttelten ihn die Glocken mit jedem neuen Schlag durch.
    Das Geräusch wurde nur noch lauter,
als er die Kirche betrat und die Stufen erklomm. Sie schienen unter ihm zu
beben. Er hielt sich die Hände über seine zugestopften Ohren, aber es nützte
nichts. Zum tausendsten Mal verfluchte er Gott, weil er ihm dieses Kind
geschickt hatte.
    Auf der ersten Ebene des Glockenturms
sah er, dass die Seile sich nicht bewegten, und trotzdem läuteten die Glocken.
Er sah schwarze Flecken vor seinen Augen. Als die Welt sich zu drehen begann,
wusste er plötzlich: Das waren überhaupt nicht Gottes Glocken! Sie waren
reingelegt worden. Es waren die Glocken des Teufels! Der Teufel hatte sie alle
zum Narren gehalten. Ihm hatten sie eine Kirche gebaut. Ihm hatten sie die
Glocken gegossen!
    Er machte kehrt, um die Stufen
hinunterzueilen, aber da erhaschte er über sich in den Spalten zwischen den
Brettern einen Blick auf das Tanzen kleiner teuflischer Füße.
    In dem mageren, vertrockneten Körper
steckte noch Mut. Er klammerte sich an die Peitsche wie an ein Schwert. Er
stieg die Leiter hinauf und schob die Falltür so weit auf, dass er etwas sehen
konnte.
    Sie sprang. Sie wirbelte. Sie
schaukelte und streckte sich. Sie schwang den Hammer und hing in der Luft, wenn
er aufschlug. Die Glocken schienen aus ihr heraus zu läuten, als wären die
Glocken, die sie schlug, ihr eigenes schwarzes Herz. Sie hüpfte an der Kante
entlang und eine unsichtbare Hand zog sie zurück. Sie läutete die größte Glocke
– ein Klang, als würden ihm Nägel in die Ohren geschlagen.
    Die Freude, die in ihren Augen
aufleuchtete, war der letzte Beweis, den Iso Froben brauchte: Seine Tochter war
vom Teufel besessen. Er öffnete die Falltür und kletterte hindurch. Der alte
Mann wurde zum Krieger. Er peitschte das Teufelskind, bis es am Boden lag und
sich nicht mehr bewegte. Bald war das Glockenläuten nur noch ein sanftes
Klingeln in der Luft. Weit unter ihm erklangen Jubelrufe im Dorf. Seine Tochter
wimmerte.
    Er ließ seine Peitsche neben ihr
fallen und stieg hinab. Ohne anzuhalten, ging er durch die feiernde Menge und
wurde nie wieder in Uri gesehen. Und so war er nach Kilchmar das zweite – aber
nicht das letzte – Opfer der Glocken.
    In der Kirche jedoch bewegte sich
das Mädchen erst, als die Dunkelheit gekommen war. Sie hob den Kopf, um sich zu
vergewissern, dass ihr Vater fort war, und setzte sich auf. Ihre Kleider waren
blutig. Die Striemen auf ihrem Rücken brannten. Ihre Ohren waren taub für das
Feiern im Dorf unter ihr. Sie nahm ihre Hämmer und öffnete die Falltür.
    Morgen, dachte sie, als sie zu den Glocken hinaufsah. Morgen
läute ich euch wieder .
    Und das tat sie am nächsten Tag, und
am Tag danach und jeden Morgen, Mittag und Abend bis zu ihrem Tod.
    Das Kind hieß Adelheid Froben, und
ich, Moses Froben, bin ihr Sohn.

II.
    Meine Mutter hatte einen
schmutzig-verfilzten Haarschopf, dicke Eisenmuskeln in den Armen und – allein
für mich – ein Lächeln so warm wie die Sonne im August. Als ich geboren wurde,
hatte sie schon einige Jahre in einer kleinen Alpenhütte neben der Kirche gelebt.
Nein, das ist nicht ganz richtig: Meine Mutter lebte im Glockenturm. Sie kam
nur in die Hütte, wenn der Glockenturm, der dem bitteren Bergwetter ausgesetzt
war, zu kalt wurde, wenn dort zu viel Schnee lag oder wenn sie Hunger hatte –
die Dorfbewohner überließen ihr Käserinden und kalten Haferschleim – oder wenn
die Sommergewitter durch das Tal auf unseren Glockenturm zufegten. Das taten
sie oft, und dann läuteten die Glocken wie von Geisterhand. Obwohl sie selbst
schmutzig war und sich ihr ganzes Leben lang nicht wusch, schrubbte sie mich
jede Woche von Kopf bis Fuß in dem eiskalten Wasser des Bachs. Sie fütterte
mich mit einem Holzlöffel, bis ich zum Bersten voll war. Damals wusste ich
nicht, wie andere Kinder spielten und lachten, wie sie so taten, als wären sie
Könige oder Soldaten, wie sie tanzten und gemeinsam Lieder sangen. Als
Vierjähriger wollte ich nichts anderes vom Leben, als dort oben zu sitzen
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