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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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und
meine Beine über den Rand des Glockenturms baumeln zu lassen. Auf die Berge zu
schauen. Der Schönheit der Glocken zu lauschen.
    Und deshalb wundert mich das
Fehlurteil der Dorfbewohner nicht. Ein Junge, dem Glocken, die Trommelfelle im
Umkreis von fünfzig Schritt platzen lassen, anscheinend nichts ausmachen? Ein
Junge, der niemals spricht, dessen Füße nicht einmal das Gras zum Rascheln zu
bringen scheinen, der niemals irgendein Geräusch macht? Ein Kind, das selbst
die wütenden Rufe von Vater Karl Victor Vonderach missachtet? Es gibt keine
andere Erklärung. Dieses Kind ist taub. Es ist so dumm wie seine Mutter.
    Und doch, nähern wir uns diesem
Jungen, der am Rand seiner Welt sitzt, der ausdruckslos auf eine Szenerie
blickt, die nur Gott geschaffen haben kann. Es ist früher Sommer, und die Alpen
sind so üppig, dass man den Kühen ihr Gras neidet und sich neben ihnen bücken
und sich den Bauch vollschlagen möchte, bis einem grüner Sabber über das Kinn
läuft. Hoch oben liegt in Senken und unter Felsvorsprüngen noch Schnee. Die
fernen, grüneren Berggipfel im Norden sind von grasenden Schafen übersät wie der
Kopf eines Bettlers mit Läusen.
    Dieser Junge hört zu. Alle drei
Glocken hinter ihm läuten, und er hört die durchdringenden Schlagtöne, die
unzähligen Teiltöne. Auf einer Glocke türmen sich winzig schmale Streifen
übereinander, und wie tausend unterschiedliche Schattierungen einer Farbe
bringt jeder dieser Streifen eine andere Tonlage hervor. In seinem Kopf breitet
er diese Noten aus wie andere Kinder ihre Spielzeugsammlung. Er fügt Teiltöne
zusammen, sodass sie ihn zum Lächeln bringen oder mit den Zähnen knirschen
lassen. Er findet die Töne, die der Falke in seinem Schrei anschlägt. Er findet
die Töne, aus denen sich Donnergrollen und der Pfiff des Murmeltiers
zusammensetzen. Er hört die Noten, die er selbst benutzt, wenn er lacht. Die
Glocken sind laut, sehr laut, aber sie verletzen seine Ohren nicht. Seine Ohren
haben sich im Umkreis dieser Laute entwickelt, und jeder mächtige Glockenschlag
macht seine Ohren umso unverwüstlicher.
    Es gibt das Geräusch des Einatmens
seiner Mutter, wenn sie ihren Hammer zurückzieht, das Geräusch ihres Ausatmens,
wenn sie ihn nach vorn schwingt, das Rascheln ihres zerlumpten Kleides an ihren
nackten Beinen, das Knirschen der rostigen Aufhängung der Glocken, das Geräusch
des warmen Windes, der durch die Ritzen des Dachs pfeift, das Muhen der Kühe
auf der Wiese unterhalb der Kirche, das Reißen des Grases, wenn die Kühe
weiden, den Schrei des Bussards über dem Feld, das Rauschen der Schneeschmelze
über die Felsen nach unten.
    Er hört auch, dass das Wasser auf den
Felsen nicht immer ein und dasselbe ist: Da sind Steine, die mitgerissen und
ins Rollen gebracht werden, da sind Tropfen, die zum Sprühregen werden, da ist
das Plätschern eines sprudelnden Teiches, da ist das Lachen der Kaskaden. All
das kann er genau unterscheiden: wenn seine Mutter die Lippen öffnet, wenn der
Atem durch ihre Nase strömt, wenn die Luft an ihrer Zunge pfeift. Das Ächzen in
ihrem Hals. Das Krächzen ihrer Lungen, die sich weiten. Wie ein Baby, das einen
Gegenstand mit dem Mund und tastenden Händen untersucht, betatscht er jeden
Laut so lange, bis er seufzt: Ja!
    Das ist keine Zauberei – ich kann es
bezeugen. Er kann nicht hören, was auf der anderen Seite der Berge oder auf der
anderen Seite der Erde ist. Es handelt sich lediglich um das Wahrnehmen von
Unterschieden. Auch wenn dieser Junge mit vier eigentlich gar nichts kann –
weder sprechen noch schreiben noch lesen –, die Unterscheidung von Lauten, das Zerlegen von Lauten
beherrscht er wie kein anderer. Diese Fähigkeit haben ihm seine Mutter und ihre
Glocken geschenkt.
    Also sitzt der Junge in der Höhe und
untersucht die Welt. Er hört die Glocken und zerlegt ihr Geläute, dann legt er
sie zur Seite. Er greift nach dem Geräusch des Windes. In dem Wind hört er, was
wir in fließendem Wasser sehen: eine Vielzahl von scheinbar chaotischen
Strömungen, die doch von einem göttlichen Gesetz geordnet werden. Er liebt es,
dem Wind zuzuhören, wenn er durch die Löcher im Dach schießt oder wenn er um
die Ecken des Turmes pfeift oder wenn er durch das hohe Gras auf den Wiesen
flattert.
    Obgleich er jeden neuen Laut
begeistert aufnimmt, erfährt er bald, dass Laute nicht nur Gutes bringen. Er
stellt fest, dass der Pfiff des Windes in den Ritzen dumpfer ist, wenn Regen
kommt. Er fürchtet die
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