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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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Als ich krabbeln lernte, hielt sie meinen Fuß fest, damit ich nicht
über die Kante kroch und mich auf den Felsen unter uns zu Tode stürzte. Sie
half mir beim Stehen. Ich hielt in jeder Faust einen Finger von ihr und sie
führte mich herum und herum, hundertmal am Tag an jeder Kante vorbei. Was den
Raum betraf, war unser Glockenturm eine winzige Welt – die meisten Leute würden
ihn als Gefängnis für ein Kind betrachten. Aber was den Klang betraf, so war er
die riesigste Wohnung der Welt. Denn jeder Klang, der je gemacht wurde, war in
das Metall jener Glocken eingeschlossen, und sobald meine Mutter sie schlug,
entließ sie die Schönheit dieser Klänge in die Welt. So viele Ohren hörten das
donnernde Geläute durch die Berge hallen. Sie hassten es oder wurden von seiner
Gewalt ergriffen oder waren so hingerissen, dass sie blicklos in die Ferne
starrten, oder sie weinten, wenn die Vibrationen die Trauer aus ihnen
hinaustrieben. Aber sie fanden es nicht schön. Das konnten sie nicht. Die
Schönheit des Geläutes blieb meiner Mutter und mir vorbehalten.
    Ich wünschte, das wäre der Anfang:
meine Mutter und diese Glocken, Adam und Eva meiner Stimme, meiner Freuden,
meines Kummers. Aber natürlich stimmt das nicht. Ich habe einen Vater, meine
Mutter hatte auch einen. Und auch die Glocken hatten einen. Ihr Vater war
Richard Kilchmar, der eines Nachts im Jahre 1725 wankend auf einen Tisch stieg,
so betrunken, dass er nicht einen, sondern zwei Monde sah.
    Er machte ein Auge zu und kniff das
andere zusammen, bis die zwei Monde zu einer einzigen verschwommenen Scheibe
wurden. Er sah sich um: Zweihundert Männer füllten den Platz von Altdorf, einem
Ort, der stolz darauf war, Angelpunkt der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu
sein. Diese Männer feierten die Ernte und die Krönung des neuen Papstes und die
warme Sommernacht. Zweihundert Männer, die bis zu den Knöcheln in
pissegetränktem Matsch standen. Zweihundert Männer mit Krügen voller scharfem
Schnaps, gebrannt aus Urner Birnen. Zweihundert Männer, die genauso betrunken
waren wie Richard Kilchmar.
    »Ruhe!«, brüllte er in die Nacht, die
ihm so warm und klar erschien wie die Gedanken in seinem Kopf. »Ich will etwas
sagen!«
    »Sag was!«, brüllten sie und
verstummten.
    Hoch über ihnen leuchteten die Alpen
im Mondlicht wie Zähne in schwarzem, verfaultem Zahnfleisch.
    »Die Protestanten sind Hunde!«,
brüllte er, hob seinen Becher und fiel fast vom Tisch. Sie jubelten und
verfluchten die Hunde in Zürich, die reich waren. Sie verfluchten die Hunde in
Bern, die Waffen hatten und eine Armee, die auf die Berge steigen und Uri
erobern konnte. Sie verfluchten die Hunde in deutschen Landen weiter im Norden,
die nie von Uri gehört hatten. Sie verfluchten die Hunde, weil sie Musik
hassten, die Jungfrau Maria verleugneten und die Heilige Schrift neu schreiben
wollten.
    Diese Flüche, in den Hauptstädten
Europas seit zweihundert Jahren abgedroschen, schnitten Kilchmar ins Herz. Sie
brachten Tränen in seine Augen – die Männer vor ihm waren seine Brüder! Aber
was sollte er antworten? Was konnte er ihnen versprechen? So wenig. Er konnte
ihnen keine Festung mit Kanonen bauen. Zwar war er einer der reichsten Männer
von Uri, aber trotzdem konnte er sich keine Armee leisten. Er konnte sie nicht
einmal mit seiner Weisheit trösten, denn er war kein Mann der Worte.
    Und dann hörten sie es alle – die
Antwort auf seine stumme Bitte. Ein Läuten, das ihren verschwommenen Blick auf
den Himmel richtete. Jemand war in den Glockenturm der Kirche geklettert und
läutete die Glocke. Es war das schönste, herzzerreißendste Geräusch, das
Richard Kilchmar je gehört hatte. Es hallte von den Häusern wider. Es kam aus
den Bergen zurück. Das Läuten kitzelte seinen vollen Bauch. Als es aufhörte,
war die Stille so warm und feucht wie die Tränen, die sich Kilchmar aus den
Augen rieb.
    Er nickte der Menge zu. Zweihundert
Köpfe nickten zurück.
    »Ich werde euch Glocken geben«,
flüsterte er und ließ seinen Schnaps zum mitternächtlichen Himmel
hochschwappen. Seine Stimme erhob sich zu einem Rufen. »Ich werde eine Kirche
bauen, um sie zu beherbergen, hoch oben in den Bergen, sodass ihr Läuten von
jedem Zentimeter Erde in Uri widerhallt! Sie werden die Lautesten und Schönsten
Glocken von allen sein!«
    Jetzt jubelten sie noch lauter als
vorher. Er erhob seine Arme im Triumph. Schnaps rann ihm über die Stirn. Dann
tauchten er und alle anderen bis auf den Grund ihrer
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