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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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Becher und tranken sie
leer und besiegelten Kilchmars Versprechen.
    Als er den letzten Tropfen trank,
taumelte Kilchmar nach hinten, stolperte und fiel. Er verbrachte den Rest der
Nacht im Matsch und träumte von seinen Glocken.
    Er erwachte unter einem blauen
Himmel, und ein Kreis aus zwanzig ehrfürchtigen Gesichtern sah auf ihn hinab.
    »Führe uns!«, flehten sie ihn an.
    Ihre Verehrung schien ihn mühelos auf
die Füße zu heben, und nach sechs oder acht Schlucken aus ihren Trinkflaschen
fühlte er sich noch schwereloser. Bald saß er auf seinem Pferd und führte eine
Prozession an: fünfzig Pferde, mehrere Wagen mit Frauen, überall Kinder und
Hunde, die durch das Gras flitzten. Wo er sie hinführen sollte, wusste er
nicht, denn bis zu diesem Tage hatte er die Berge als bedrohlich und feindlich
empfunden. Jetzt aber führte er sie in Richtung Italien, in Richtung des
Papstes, in Richtung der Schneefelder, die in der Sonne glitzerten, und dann
ergriff ihn die Inspiration und er bog ab und begann mit dem Anstieg.
    Höher und höher stiegen sie, fast bis
zu den Klippen und dem Schnee. Jetzt führte Kilchmar fünfhundert Urner an, und
sie folgten ihm, bis sie an einen Felsvorsprung gelangten, wo sich das Tal vor
ihnen ausbreitete und die Reuss alles wie mit einem dünnen weißen Faden
zusammenhielt.
    »Hier«, flüsterte er. »Hier.«
    »Hier«, wiederholten sie. »Hier.«
    Dann drehten sie sich um und
betrachteten das winzige Dorf direkt unter ihnen, eine bloße Ansammlung von
verwahrlosten Häusern. Die Dorfbewohner und ihre mageren Kühe starrten
ihrerseits eingeschüchtert auf die Versammlung auf dem felsigen Hügel.
    Das armselige Dorf, von dem ich
schreibe, ist Nebelmatt. In diesem Dorf wurde ich geboren. (Möge es bis auf den
Grund niedergebrannt und von einer Lawine bedeckt werden.)
    Kilchmars Kirche wurde 1727
fertiggestellt, ausschließlich aus Urner Schweiß und Urner Stein gebaut, sodass
die Kirche ungeachtet der Menge Holz, die im Ofen verschwendet wurde, in den
Wintermonaten so kalt blieb wie der Berg, auf dem sie errichtet worden war. Sie
war gedrungen und in etwa wie ein Stiefel geformt. Der Bischof wurde um einen
Priester ersucht, der für einen Posten in Einsamkeit und Eiseskälte geeignet
war. Die Antwort auf das Gesuch erschien ein paar Tage später in Form eines
jungen Mannes, der mürrisch vor Kilchmars Tür stand – der gelehrte Vater Karl
Victor Vonderach. »Genau der Richtige für die Arbeit auf einem kalten,
entlegenen Berg«, stand im Brief des Bischofs. »Schickt ihn nicht zurück.«
    Nun hatte die Kirche einen Priester,
zwölf rustikale Kirchenbänke und ein Dach, das einen großen Teil des Regens
abhielt – aber immer noch fehlte, was Kilchmar versprochen hatte. Es gab keine
Glocken. Und so packte Kilchmar seinen Wagen, küsste seine Frau und sagte, er
würde eine Expedition nach Sankt Gallen unternehmen, um den größten
Glockenmacher der katholischen Welt zu suchen. Von patriotischen Schreien
begleitet rumpelte er nach Norden davon und wurde nie wieder in Uri gesehen.
    Der Bau der Kirche hatte ihn ruiniert.
    Ein Jahr, nachdem die letzte Schindel
aufs Dach gelegt worden war, hatte die Kirche, die für die Lautesten und
Schönsten Glocken von allen gebaut worden war, nicht einmal eine Kuhglocke in
ihrem Glockenturm hängen.
    Die Urner sind stolze und findige
Leute. Wie schwer kann es sein, eine Glocke zu
machen?, fragten sie sich. Formen aus Ton
zum Gießen, geschmolzenes Metall, ein paar Balken, an denen man die fertigen
Glocken aufhängen konnte – das war alles. Vielleicht hatte Gott ihnen Kilchmar
nur geschickt, um sie in Bewegung zu setzen.
    Gott braucht euer Eisen, lautete der Aufruf. Bringt
Ihm euer Kupfer und euer Zinn .
    Verrostete Schaufeln, zerbrochene
Hacken, rostige Messer, rissige Kessel, all das wurde auf einen Haufen
geworfen, der sich bald auf Altdorfs Platz türmte – genau an der Stelle, wo
Kilchmar drei Jahre zuvor sein Versprechen abgegeben hatte. Jede neue Gabe
wurde bejubelt. Ein Mann schleppte den Ofen herbei, der ihn im Winter hätte
wärmen sollen. Gott segne sie, wurde gemurmelt, als eine alte Witwe ihren Schmuck
beisteuerte. Tränen flossen, als die drei besten Familien drei Goldmünzen
beisteuerten. Zehn Ochsenkarren wurden benötigt, um das Metall zum Dorf
Nebelmatt zu bringen.
    Die Dorfbewohner hatten zwar nur wenig
Metall anzubieten, ließen sich aber trotzdem nicht lumpen. Während sie neun
Tage und Nächte lang die behelfsmäßige Schmelzhütte
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