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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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sondern so, wie wir Heiligkeit hören: als Vibration im Inneren.
    Alle beobachteten sie, denn sie
wussten, dass Gott ihnen dieses schwachsinnige Mädchen geschickt hatte, genau
wie Gott ihnen Kilchmar geschickt hatte und den Stein, um die Kirche zu bauen,
und das Metall, um die Glocken zu gießen.
    Sie sah zum Glockenturm, als wünschte
sie, fliegen zu können.
    »Geh schon«, flüsterten sie. »Geh
schon.«
    Sie hört nicht, wie sie von ihnen
angetrieben wird. Aber die Erinnerung an das Glockengeläut zieht sie zur Tür
und in die Kirche, wo sie noch nie gewesen ist. Auf dem Boden liegen
Glasscherben – die zerbrochenen Fenster – und deshalb hinterlässt sie blutige
Fußspuren, als sie die engen Stufen im hinteren Teil der Kirche nach oben
steigt. Auf der ersten Ebene des Glockenturms kommen die drei Seile durch die
Decke. Aber sie weiß, was Seile sind, und weiß auch, dass der Zauber nicht von
ihnen kommt, und deshalb klettert sie die Leiter hoch und hebt die Falltür mit
dem Kopf. Die Seiten des Glockenturms sind offen, es gibt kein Geländer, das
vor einem Sturz schützt. Vor sich hat sie vier verschiedene Aussichten: auf der
linken Seite schiere Felsen, vorne das Tal, das sich in Richtung Italien
windet, auf der rechten Seite den schneebedeckten Sustenpass und hinter ihr die
Leute, die sich bei den Häusern versammeln, wie Maden, die auf verfaulendem
Fleisch wimmeln.
    Sie stellt sich unter die größte
Glocke und sieht hinauf in die Schatten. Der Glockenkörper ist schwarz und rau.
Sie reckt sich und schlägt ihn mit der Hand. Nichts bewegt sich. Sie fühlt
keinen Klang. In der Ecke stehen zwei Kupferhämmer. Sie nimmt einen davon und
schlägt ihn an die größte Glocke.
    Zuerst spürt sie es im Bauch – wie die
Berührung einer warmen Hand. Es ist Jahre her, dass jemand sie berührt hat. Sie
schließt die Augen und spürt, wie die Berührung in ihre Oberschenkel ausstrahlt
und über ihre Rippen läuft. Sie seufzt. Noch einmal schlägt sie mit dem Hammer
auf die Glocke, so fest sie kann, und die Berührung breitet sich weiter aus.
Sie schleicht sich über ihren Rücken und in die Schultern hinauf. Die Berührung
scheint sie zu tragen, sie schwimmt in dem Klang. Wieder und wieder schlägt sie
die Glocke, und der Klang wird wärmer.
    Sie läutet die mittlere Glocke und
hört sie in ihrem Hals, in ihren Armen, in den Kniekehlen. Der Klang zieht an
ihr wie warme Hände, die sie ausdehnen, und ihr kleiner Körper fühlt sich
größer und breiter an als je zuvor.
    Die kleine Glocke hört sie in ihrem
Kiefer, in dem Fleisch ihrer Ohren, im Fußgewölbe. Wieder und wieder schwingt
sie den Hammer. Sie holt sich den zweiten Hammer, damit sie die Glocken mit
beiden Armen schlagen kann.
    Im Dorf jubelten sie über das
Wunder und weinten vor Freude. Das Echo des Geläutes kehrte von der anderen
Seite des Tals zurück. Sie schlossen die Augen und hörten der Herrlichkeit zu.
    Das Mädchen läutete die Glocken. Eine
halbe Stunde verging. Sie konnten nicht hören, was sie sagten. Einige brüllten,
aber die meisten saßen nur auf Baumstämmen oder lehnten sich an die Häuser und
pressten die Hände auf die Ohren. Die Schweine waren schon gebraten. Die
Weinfässer waren angestochen, aber konnten sie ohne einen Segensspruch mit der
Siegesfeier beginnen?
    »Hör auf!«, rief jemand.
    »Ruhe!«
    »Genug!«
    Sie schüttelten ihre Fäuste in
Richtung Kirche.
    »Jemand muss sie aufhalten!«
    Bei dieser Aufforderung sah jeder
verstohlen auf den Nachbarn. Keiner trat vor.
    »Holt ihren Vater!«, riefen sie. »Ihr
Vater muss es machen.«
    Iso Froben, der Schäfer, dessen Frau
ihm nach zwanzig Jahren Ehe dieses eine missgebildete Kind geschenkt hatte,
wurde nach vorn geschoben. Er war nicht älter als fünfzig, aber seine Augen
waren eingesunken und seine Unterarme waren die mageren Stöckchen eines
Urgroßvaters. Er rieb sich mit dem Handrücken über die laufende Nase und sah
zur Kirche hinauf, als würde er losgeschickt, um einen Drachen zu töten. Eine
Frau kam, stopfte ihm Wolle in die Ohren und wickelte eine schmutzige Hose um
seinen Kopf, die sie hinten verknotete wie einen Turban.
    Er rief einem Mann neben sich etwas
zu. Dieser verschwand in der Menge und kehrte gleich darauf mit einer
Maultierpeitsche zurück.
    So viele Male hörte ich die
Geschichte, als ich heimlich lauschte: wie der tapfere Iso Froben sich den
Hügel hinaufkämpfte, eine Hand am Turban, damit ihm die Hose nicht über die
Augen rutschte, die andere an der
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