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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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überwachten, steuerten sie
allen Schnaps bei, der beim Morgengrauen noch in ihren Flaschen war, außerdem
ein vollständiges Wolfsgebiss, ein geschnitztes Steinbockshorn und einen
staubigen Quarzbrocken.
    An dem Tag, an dem sie die glühende
Suppe in die Formen gossen, wurden zwölf Männer lebenslang mit Brandmalen
gezeichnet. Die erste Glocke war so rund wie ein fetter Truthahn, die zweite
war groß genug, um eine kleine Ziege unter sich zu verbergen, und die dritte,
die außergewöhnliche dritte Glocke, war so groß wie ein Mann und musste von
sechzehn Pferden in den Glockenturm gehievt werden.
    Ganz Uri versammelte sich auf dem
Hügel unter der Kirche, um die Glocken zum ersten Mal läuten zu hören. Als
alles bereit war, richtete die Menge ihren ehrfürchtigen Blick auf Vater Karl
Victor Vonderach. Er sah sie an, als wären sie lediglich eine Herde Schafe.
    »Ein Segen, Vater?«, flüsterte eine
Frau. »Würden Sie unsere Glocken segnen?«
    Er rieb sich die Schläfen und trat vor
die Menge. Er senkte den Kopf, und alle anderen taten es ihm nach. »Himmlischer
Vater«, krächzte er durch den Schleim, der sich in seinem Hals gesammelt hatte.
»Segne diese Glocken, die Du …« Er schniefte und sah sich um, und dann warf er
einen Blick auf seinen Schuh, der in einem feuchten Kuhfladen steckte. »Sie
sollen alle verdammt sein«, murmelte er und stolzierte durch die Menge, die
seiner Gestalt nachsah, bis er in seinem Haus verschwand, das Glas in den Fenstern,
aber noch keine Schindeln auf dem Dach hatte.
    Die verstummte Menge drehte sich um
und sah sieben von Kilchmars Vettern entschlossen in die Kirche marschieren.
Einer sollte die kleinste, zwei die mittlere und vier die größte Glocke läuten.
Viele der Versammelten hielten den Atem an, als die drei großen Glocken im
Glockenturm zu schwingen begannen.
    Und dann begannen die Lautesten und
Schönsten Glocken von allen zu läuten.
    Die Bergluft erzitterte. Das Geläute
erfüllte das Tal. Es war so schrill wie eine rostige Türangel, so grollend wie
eine Lawine, so durchdringend wie ein Schrei und so beruhigend wie das Flüstern
einer Mutter. Alle schrien auf und hielten sich mit den Händen die Ohren zu.
Sie stolperten zurück. Vater Karl Victors Fensterscheiben bekamen Risse. Zähne
wurde so fest zusammengebissen, dass sie splitterten. Trommelfelle platzten.
Eine Kuh, zwei Ziegen und eine Frau bekamen plötzlich Wehen.
    Als endlich das Echo von den fernen
Berggipfeln nachließ, trat Stille ein. Jeder Einzelne starrte die Kirche an,
als würde sie gleich in sich zusammenfallen. Dann wurde die Tür aufgestoßen,
Kilchmars Vettern strömten heraus, wobei sie ihre Hände an die ruinierten Ohren
hielten und vor der Menge standen wie Diebe, die man mit Wertsachen in ihren
Strümpfen erwischt hatte.
    Und jetzt begann der Jubel. Hände
reckten sich gen Himmel. Fäuste wurden erhoben. Tränen flossen. Sie hatten es
geschafft! Die Lautesten Glocken von allen waren geläutet worden!
    Gottes Königreich auf Erden war
gerettet!
    Die Menge bewegte sich langsam den
Hügel hinunter. Als jemand rief: »Läutet sie noch mal!«, gab es ein kollektives
Schaudern und gleich darauf begann eine wilde Flucht – Männer, Frauen, Kinder,
Hunde und Kühe rannten, schlitterten, rollten den matschigen Hügel hinunter und
versteckten sich hinter den baufälligen Häusern, als wollten sie einer Lawine
entgehen. Dann wurde es still. Mehrere Köpfe erschienen an Häuserecken und
spähten auf die Kirche. Die Vettern Kilchmar waren nicht zu entdecken.
Tatsächlich befand sich in einem Umkreis von zweihundert Schritt niemand bei
der Kirche. Niemand war mutig genug, die Glocken ein weiteres Mal zu läuten.
    Wirklich nicht? Flüstern erfüllte die
Luft. Die Kinder zeigten auf einen braunen Klecks, der sich leicht den Hügel
hinaufbewegte – wie ein Bündel Heu, das von einem sanften Wind getrieben wird.
Ein Mann? Nein, kein Mann. Ein Kind – ein kleines Mädchen – in schmutzigen
Lumpen.
    Es war nämlich so, dass dieses Dorf
unter seinen Schätzen auch eine taube Idiotin hatte. Sie hatte die
Angewohnheit, die Dorfbewohner mit einem verstörenden Funkeln zum Wegsehen zu
zwingen, gerade so, als kenne sie die Sünden, die sie unbedingt verbergen
wollten. Deshalb wurde sie mit Eimern voll schmutzigem Waschwasser vertrieben,
wann immer sie auftauchte. Dieses taube Mädchen starrte auf den Glockenturm,
als es den Hügel hinaufstieg, denn auch sie hatte die Glocken gehört, nicht in ihren
leeren Ohren,
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