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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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mit einer Hand am Glockenstrang zog. Aber immer
kehrte sie am Ende zu ihrem Tanz zurück: sie sprang und schwang die Hämmer und
schloss die Augen, wenn die Wellen sie durchströmten.
    Wenn meine Mutter ihre Glocken
läutete, stimmte sie die Fasern ihres Körpers wie ein Geiger seine Saiten. Ihr
Hals hallte schwach von einem Teilton der mittleren Glocke wider. Ihre Schenkel
von einem anderen. In ihren Fußsohlen hörte ich den Schlagton der kleinsten
Glocke. Jeder Ton, der in ihrem Körper widerhallte, war wiederum das leiseste
Echo des gewaltigen Konzerts. Ich kann mich nicht an das Gesicht meiner Mutter
erinnern, aber ich erinnere die Landschaft ihrer Klänge. Und obgleich ich kein
Bild von ihr habe, kann ich meine Augen schließen und ihren Körper mit jenen
Glocken läuten hören, und dann ist es, als hielte ich ein Porträt von ihr in
den Händen.
    Ein normales Kind hätten sie sich
geschnappt und unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit arbeiten lassen. Mir aber
erlaubte man, bei meiner Mutter zu bleiben, weil alle glaubten, ich wäre
genauso taub und verrückt wie sie. Manchmal sah ich den Dorfkindern beim
Spielen zu und wollte gerne mitmachen, aber sie warfen mit Steinen nach mir,
sobald ich ihnen zu nahe kam. Acht Jahre lang lebten wir in dem Glockenturm und
in der Hütte, wir arbeiteten nie (abgesehen vom Läuten der Glocken, was aber
für uns beide eine Belohnung war und keine Pflicht), wir kochten nie, obwohl
die dürftigen milden Gaben des Dorfes schnell verzehrt waren.
    Als Meister der Klänge hatte ich keine
Schwierigkeiten, in ein Haus zu schlüpfen, zu lauschen und mich zu
vergewissern, dass niemand in der Vorratskammer war, eine erstklassige Wurst zu
schnappen, an einer Tür vorbeizugleiten (hinter der sich ein Ehepaar angeregt
über die Kühe des Nachbarn unterhielt), einen frischen Brotlaib zu stehlen, der
neben dem Herd abkühlte, und völlig geräuschlos zu verschwinden. Obwohl ich ein
winziges Ding war, entwickelte ich eine Vorliebe für Lammkeulen, halbgaren
Speck, aus der Schale geschlürfte Eier. Bevor ich acht wurde, hatte ich bereits
Hennen die Eier gestohlen, auf denen sie saßen, hatte Eintöpfe von Feuerstellen
und ganze Käselaibe aus Kellern stibitzt. Manchmal hörte ich zu, wenn Mütter
ihren Kindern vor dem Feuer Geschichten erzählten, oder sah einen verspielten
Sohn in die Arme seines Vaters klettern. Einmal schlich ich mich abends in ein
Haus und stieß auf eine Mutter, die ihren Sohn tröstete, der nicht schlafen
konnte, weil seine Freunde ihm erzählt hatten, der Geist von Iso Froben suche
das Dorf heim. Der Vater saß erschöpft am Tisch. »Er hat nämlich den Schinken
gestohlen«, sagte der Junge zu seiner Mutter. »Und den Käse und den Topf mit …«
    »Pst«, flüsterte ihm seine Mutter ins
Ohr. »Es gibt keine Geister.« Und dann sang sie ihm leise etwas vor. Gebannt
von ihrem Singen und von der Wärme ihres Feuers stand ich da und vergaß für
einen Augenblick, dass man mich entdecken könnte. Sie lief auf und ab und hielt
den schlaftrunkenen Kopf ihres Sohnes an ihren Hals. Plötzlich fiel ihr Blick
auf meine leuchtenden Augen. »Huch!«, blökte sie, als hätte sie eine Ratte
gesehen. Der tapfere Vater sprang von seiner Bank auf. Ein Schuh flog an meinem
Kopf vorbei, der zweite traf meinen Rücken, als ich durch die Tür flitzte. Ich
stolperte und fiel in den Matsch. Der Vater war hinter mir und schwang ein
Zaumzeug wie eine Peitsche, aber ich kam auf die Füße und es gelang mir, im
Dunkel zu verschwinden. Mehrere Minuten lang weinte ich hinter einem Stall,
aber bald überwältigte mich der Hunger und ich schlüpfte hinein. Auf den Knien
ließ ich warme Ziegenmilch direkt in meinen Mund spritzen. Ich fand einen
Tonkrug, füllte ihn und brachte ihn meiner Mutter.
    Wir schwelgten immer im Glockenturm
und warfen die Knochen und Töpfe und den Abfall in die Schlucht unter uns, wo
alles liegen blieb wie die Überreste einer blutigen Schlacht. Wir aßen mit den
Fingern, rissen das Fleisch mit den Zähnen ab und wischten uns die Hände an den
Lumpen ab, die wir trugen. Wir genossen die grenzenlose Freiheit der Elenden.
    Aber all das endete mit einem Schlag,
als Vater Karl Victor Vonderach erkannte, dass ich nicht so hilflos war, wie
ich aussah.
    Es war später Frühling, ein
Nachmittag, an dem die Sonne nach tagelangem Regen gerade durch die Wolken
gebrochen war. Die Hufe der Kühe platschten durch die aufgeweichten Weiden. Das
Wasser schnitt Gräben in die weiche Erde und
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