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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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Karl Victor – aus meinem Mund geflogen.
    Der Schrei dauerte nur so viel Zeit,
wie ein Stein braucht, um vom Glockenturm zu fallen und in den Matsch der Wiese
zu plumpsen. Aber er dauerte lange genug, dass die Mauer aus Rücken aufbrach.
Erschreckte Augen in nüchternen Gesichtern starrten mich an. Die spielenden
Kinder erstarrten. Frauen mit Säuglingen auf dem Arm verharrten auf der
Schwelle ihrer Häuser.
    Vater Karl Victor Vonderach stand in
der offenen Tür.
    »Eine Frau stirbt«, sagte ich zu den
Gesichtern. »Ihr müsst kommen.«
    Auf mein Geheiß standen die Männer auf
und stießen die Bänke um.
    Ich rannte den Weg durch den Wald
zurück, und eine Armee von Füßen folgte mir.
    »Erdrutsch!«, hörte ich einen von
ihnen brüllen, und dann überholten sie mich.
    Sie traten auf den gefährlichen Boden,
rutschten aus, brachten Felsbrocken ins Rollen und kämpften sich durch den
Erdrutsch, als wollten sie eine Frau vor dem Ertrinken in Stromschnellen
retten. Bald wischten sie sich Blut und Dreck und Tränen aus den Augen, als sie
die Frau so sanft aus dem Erdrutsch zogen wie eine Hebamme ein Neugeborenes.
Sie legten sie ein Stückchen weiter unten auf den Weg, wo ich mich hinter einem
jungen Baum versteckt hatte.
    »Ist sie tot?«
    »Sie ist warm.«
    »Das hat nichts zu bedeuten.«
    Ihr Kleid war voller Blut- und
Erdflecken. Ihr Gesicht war schlaff und weiß und hatte braune Streifen von den
Fingern der Männer, die ihren Hals und ihren Kopf gehalten hatten.
    Ein älterer Mann kam über den Weg
gehumpelt.
    »Lasst ihn nicht durch. Ein Vater
sollte so etwas nicht sehen.«
    Zwei Männer versuchten ihn
zurückzuhalten, aber er schob sich an ihnen vorbei. Dann ließ er sich auf sie
fallen und nahm ihr Gesicht in beide Hände.
    »Bitte, Gott!«
    Die Männer waren blass, und ich hörte,
dass Mitleid wie eine Klammer war, die ihre Schritte, ihren abgerissenen Atem,
ihre rasenden Herzen dämpfte.
    Ich kam hinter meinem Baum vor und
stellte mich neben den Mann, der seine Tochter umklammerte und weinte.
    Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Sie lebt.«
    Er sah zu mir auf und schluckte.
»Woher weißt du das?«
    »Hört.« Ich zeigte auf ihre Lippen.
Ihr Atem war schwach, aber regelmäßig.
    Einen Augenblick sah er mich an, und
dann wurde ich von einer Gruppe Frauen zur Seite geschoben. Ich kletterte zu
dem jungen Baum hinauf und versteckte mich wieder.
    Die Frauen piekten sie und ohrfeigten
sie und kniffen sie; ihre Augenlider flatterten und öffneten sich, sie lächelte
ihren Vater schwach an, und alle Geräusche wurden lauter. Alle lachten, weil
sie Tränen in den Augen hatten. Frauen gaben rufend Anweisungen. Hinter dem
Baum war ich für alle unsichtbar – außer für einen.
    Vater Karl Victor stand auf dem Weg
nur drei Schritte über mir. Er schien die verletzte Frau nicht zu beachten. Er
ignorierte die Bitten der Leute um ein Gebet. Er starrte mich an, als wollte er
mich mit seinem Blick verbrennen. Jedes Mal, wenn er ausatmete, knurrte er.
    »Du kannst hören«, flüsterte er leise.
    Ich wich zurück und floh den Hügel
hinauf.
    »Du kannst sprechen.«

IV.
    Im Glockenturm erkannte
meine Mutter die Angst in meinen Augen, aber als sie versuchte, mich in ihren
Armen zu beruhigen, schob ich sie weg. Ich schüttelte den Kopf. Ich ergriff
ihre Hand und versuchte, sie die Leiter hinunterzuziehen. Ich zeigte auf einen
fernen Berg – dort gab es vielleicht einen Ort, wo wir uns verstecken konnten.
    Die Traurigkeit in ihrem Blick verriet
mir, dass sie wusste, was ich sagen wollte, dass sie meinen Wunsch verstand,
dieses Dorf zu verlassen und vor Karl Victor zu fliehen. Aber sie schüttelte
den Kopf.
    Ich kann nicht weg, schien sie zu sagen.
    Und deshalb schliefen wir in jener
Nacht im Glockenturm, wir legten Decken über uns, und die einfallende Nacht
fegte warme Luft aus dem Tal nach oben. Meine Mutter drückte ihre Hämmer an die
Brust. Ich konnte nicht schlafen – nur meine Ohren würden uns in der Nacht
schützen können. Ich lauschte auf Schritte, die sich näherten, auf eine Hand an
der Leiter unter uns. Aber nach Mitternacht kam Wind auf, und Blitze flackerten
im Tal. Regen setzte ein. Er kam durch die offenen Seiten des Turms und
durchnässte uns. Meine Mutter drückte mich an sich, und wenn es aufleuchtete,
sah ich die Angst in ihren Augen. Mindestens zweimal pro Sommer schlug der
Blitz in die Kirche ein, und ich wusste, sie wäre lieber in unserer Hütte
gewesen. Während der Sturm über uns hinwegging, läuteten die
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