Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
Schauspielers. Er lächelte. »Wenn du im zweiten Akt in dem Hundertfünfzig-Dollar-Anzug auftrittst, hüpf von einem Fuß auf den anderen ... so ... wie ein Boxer ...« Christmas tänzelte umher, leichtfüßig und nervös wie einst Joey.
    »Solomon, was tust du da draußen?« Der Inspizient tauchte in der Garderobentür auf. »Und hör auf zu rauchen.«
    Der junge Schauspieler sah Christmas eindringlich an. »Wart ihr wirklich Freunde?«
    »Geh jetzt ...«, antwortete Christmas lächelnd. »Und toi, toi, toi.«
    Wenige Minuten später trat der Inspizient erneut auf die Gasse hinaus. »Mr. Luminita«, sagte er, »wollen Sie nicht hereinkommen? Es geht gleich los.«
    Christmas nickte ihm zu. Als er wieder allein war, warf er einen Blick hinauf zum sternenlosen New Yorker Nachthimmel, bevor er sich auf den Weg zur Bühne machte. Hinter dem Vorhang hörte man das gedämpfte Gemurmel des Publikums.
    »Toi, toi, toi«, wünschte er den Schauspielern.
    Der Junge, der Joey spielte, stand ein wenig abseits und hüpfte leichtfüßig wie ein Boxer von einem Bein auf das andere.
    Christmas trat hinter dem Vorhang hervor und ging hinunter in den Zuschauerraum. Beifall brandete auf. Christmas lächelte und eilte mit eingezogenem Kopf bis ans Ende des Zuschauerraums. Dort blieb er stehen und sah sich im Publikum um.
    In der ersten Reihe entdeckte er seine Mutter, sie hatte ihr schwarzes Haar hochgesteckt und trug ein weit ausgeschnittenes blaues Kleid. Und neben ihr, verschwitzt und mit sauberen Händen, Sal, der sich in einen nagelneuen Smoking gezwängt hatte. Nicht weit von ihnen erkannte Christmas Cyril, »Harlems reichsten Nigger«, wie er sich nennen ließ, mit seiner Frau Rachel. Christmas hatte sich mit dem Intendanten, der »keine Menschen mit schwarzer Haut«, wie er sie definiert hatte, im Zuschauerraum dulden wollte, anlegen müssen. Doch davon wusste Cyril nichts. Christmas entdeckte Sister Bessie, die stolz einen Ring mit einem eingefassten Golddollar herumzeigte. Und er lächelte Karl zu, der, kaum hatte er seine Eltern zu ihren Plätzen geleitet, mit den Managern von WNYC zu tuscheln begann, wobei es gewiss um neue Projekte ging. Christmas winkte den Technikern des CKC-Teams zu, das die Aufführung mitschneiden würde, um sie im Radio zu übertragen. Voller Zuneigung blickte er auf Santo, den frischgebackenen Geschäftsführer des Macy’s, neben dem die hochschwangere Carmelina saß. Und er musste lachen, als er mitten im Zuschauerraum Lepke, Gurrah und Greenie in ihren grellbunten Anzügen entdeckte. Um sie herum saß alles, was in New York Rang und Namen hatte, die Jüngeren im Smoking, die Älteren im Frack. Es gab keinen einzigen freien Platz im Theater, ganz gleich, in welcher Preisklasse. Von Eugene Fontaine wusste Christmas, dass die kommenden drei Wochen bereits komplett ausverkauft waren, bevor man überhaupt wusste, was die Kritiken sagen würden. Künstler, Journalisten und die Reichen der Stadt waren gekommen, einfach alle.
    Dennoch ... Ganz hinten im Zuschauerraum, gelang es Christmas nicht, uneingeschränkt glücklich zu sein. Er schloss die Augen. Sein ganzes Leben zog an ihm vorbei. Flüchtig. Unvollendet.
    »Abdunkeln«, sagte der Inspizient.
    Der Zug hatte Verspätung. Besorgt sah Ruth auf die Uhr. Es hielt sie nicht mehr auf ihrem Sitz. Sie öffnete das Abteilfenster und lehnte sich hinaus. Der Wind zerzauste ihr Haar. Seufzend schloss sie das Fenster wieder. Die alte Dame, die ihr gegenübersaß, sah sie an und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Angespannt lächelte Ruth zurück.
    Ihr blieb keine Zeit mehr. Mit einem Mal blieb ihr keine Zeit mehr. Sie würde es niemals schaffen.
    »Wir kommen schon an«, sagte die alte Dame.
    »Ja«, erwiderte Ruth und setzte sich. Mit gesenktem Kopf versuchte sie, ruhig zu atmen und das Zucken in ihren Beinen zu kontrollieren. Sie legte die Hand an die Brust. Unter ihrer weißen Bluse ertastete sie das rote Herz, das ihr Christmas fünf Jahre zuvor geschenkt hatte. Der Lack hatte Risse bekommen. Sie umschloss es mit den Fingern. Doch ihre Beine wollten nicht stillhalten, und so sprang Ruth abermals auf, öffnete erneut das Fenster und lehnte sich hinaus. Schneidend drang die rußige Luft in ihre Lungen.
    Als sie das Fenster wieder schloss, lachte die alte Dame hell auf und hielt sich die behandschuhte Hand vor den Mund. »Ach, du lieber Himmel, wie sehen Sie jetzt aus!«, sagte sie. Sie kramte in ihrer Handtasche und holte ein Leinentaschentuch hervor.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher