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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte
Autoren: Luca Di Fulvio
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»Kommen Sie her, Sie flatteriges Mädchen.« Mit wackligen Beinen stand sie auf und beugte sich zu Ruth, um ihr die Wangen zu säubern. Sie musterte sie und lachte wieder. »Sie sollten sich ein wenig schminken. Sie sehen furchtbar aus.«
    Ruth erwiderte nichts. Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Dann wandte sie sich um, nahm ihren kleinen Krokodillederkoffer von der Gepäckablage, öffnete ihn und holte das grüne Seidenkleid, das Clarence ihr geschenkt hatte, und ein helles Lederetui heraus. Damit eilte sie aus dem Abteil in Richtung Waschraum.
    Vor der Tür hielt sie inne. Fünf Jahre war es her, dass sie zuletzt einen Waschraum wie diesen betreten hatte, in einem Zug, der in die entgegengesetzte Richtung gefahren war. In der einen Hand das rote Lackherz, in der anderen eine Schere.
    Ruth drückte die Klinke hinunter und trat ein.
    Sie betrachtete sich im Spiegel. Als sie sich zuletzt in einem Spiegel wie diesem betrachtet hatte, war ihr schwarzes Haar lang und lockig gewesen. Kurz zuvor erst hatte sie Christmas ein Versprechen von den Lippen abgelesen. Ich werde dich finden. Als sie sich zuletzt in einem Waschraum wie diesem eingeschlossen hatte, hatte sie sich die schwarzen Locken abgeschnitten und ihre Brüste straff umwickelt, weil sie keine Frau hatte werden wollen.
    Sie stützte sich am Waschbecken ab und wusch sich das Gesicht. Dann betrachtete sie sich. Die Wassertropfen sahen aus wie Tränen. Aber sie weinte nicht.
    Ruth knöpfte ihre Bluse auf und schlüpfte aus dem Wollrock. Beides ließ sie auf den Boden gleiten. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Wie an jenem Nachmittag, als sie beschlossen hatte, den Kobold aus der Lower East Side zu küssen. Wie damals öffnete sie das helle Lederetui und legte Make-up und Puder auf. Dann betonte sie mit einem schwarzen Kajalstift den Schwung ihrer Lider. Und zum Abschluss zog sie ihre Lippen mit einem kräftigen, samtigen Lippenstift nach. Rot wie das Lackherz. Sie kämmte ihr Haar. Und wieder betrachtete sie sich. Nun wusste sie, dass sie eine Frau war. Sie brauchte sich nicht mehr selbst zu streicheln, um es zu spüren.
    Langsam und sorgfältig zog sie das smaragdfarbene Kleid an.
    Kaum war sie zurück im Abteil, musterte die alte Dame sie schweigend. Auf ihrem runzligen Gesicht erschien jedoch beinahe unmerklich ein feines Lächeln, als erinnerte sie sich an etwas, das lange zurücklag, aber nie in Vergessenheit geraten war. Als der Zug in die Grand Central Station einfuhr und die alte Dame Ruth zum Ausgang hasten sah, murmelte sie leise: »Viel Glück.«
    Ruth sprang aus dem noch fahrenden Zug und schlug beinahe hin. Sie lief den Bahnsteig entlang, drängte sich durch das im Bahnhof herrschende Gedränge der Reisenden und eilte hinauf zur Taxihaltestelle.
    »Zum New Amsterdam«, sagte sie beim Einsteigen atemlos. »Bitte so schnell Sie können.«
    Der Fahrer legte den Gang ein und fuhr mit quietschenden Reifen los.
    Während der Wagen durch die Straßen brauste, blickte Ruth nicht hinaus. Ihr stand nicht der Sinn danach, die Stadt wiederzuentdecken, in der sie geboren und aufgewachsen war und der man sie entrissen hatte. Die Stadt, in der man ihr Gewalt angetan hatte und in der ihre einzige große, ihre einzig mögliche Liebe geboren war.
    Alles, was sie sah, als das Taxi hielt, war die riesengroße Leuchtschrift
    DIAMOND DOGS
    und der Menschenauflauf auf der Straße. Gewöhnliche Leute und solche, die wie Gangster oder Prostituierte gekleidet waren. Sie bezahlte, stieg aus dem Auto und blieb reglos vor dem Theatereingang stehen, als wäre ihr mit einem Mal die Puste ausgegangen oder als wollte sie sich jedes Detail für immer einprägen.
    Schließlich machte sie den ersten Schritt auf dem roten Teppich. Nicht ein einziges Mal kam ihr dabei der Gedanke an eine lange Blutspur. In ihrem Leben gab es kein Blut mehr. Der Teppich war rot wie ihre Lippen, rot wie das Lackherz.
    Sie betrat das Foyer. Gerade zogen die Theaterdiener die Samtvorhänge zu. Gleich würden sie die Türen schließen. Ruth stieg die wenigen Stufen zum Zuschauerraum hinauf, den Mantel in der einen und den Krokodillederkoffer in der anderen Hand.
    »Miss ...«, sagte jemand hinter ihr.
    Ruth ging unbeirrt weiter.
    »Miss ...«
    Sie wusste nicht, ob sie ihn finden würde, wusste nicht, ob er noch immer auf sie wartete. Sie wusste nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde. Ja, sie wusste nicht einmal, ob es eine Zukunft für sie gab.
    »Miss, wo wollen Sie hin?«
    Ruth wusste nur,
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