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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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den Platzanweiser, weil ich die Dialoge der Schauspieler um den Bruchteil einer Sekunde verspätet laut vor mich hinmurmelte, aber normalerweise schaffte ich es, die Worte unhörbar zu wiederholen. Und im Kino war ich weniger einsam. Die Dunkelheit vibrierte von der Nähe fremder Körper. Die Filmstars waren alte Bekannte.
      Ich habe noch andere Fotos von Filmstars, Peter, falls du welche über dein Bett hängen willst.
     »Und jetzt bauen Sie Häuser«, sagte Dr. Gabor. »Das ist eigentlich eine Erfolgsstory.«
     Ich wußte, was er dachte. Wie hatte ein Greenie wie ich das geschafft? Ich hatte keinen Vorteil durch Harry gehabt, es war meine Idee gewesen, aber Harry war darauf eingestiegen. Keiner von uns braucht sich auf die Brust zu schlagen.
     »Erzählen Sie mir von Ihrer Frau, Herr van Pels.«
     Erzählen Sie, erzählen Sie, er war hartnäckig. Konnte der Mann nicht hören, daß ich keine Stimme hatte?
     »Haben Sie sie hier oder in Europa kennengelernt?«
     Wenn Sie ihre Zähne sehen würden, Doktor, würden Sie das nicht fragen. Ihre Zähne sind das Ergebnis eines Lebens mit pasteurisierter Milch, frischem Gemüse und teurer Zahnpflege. Als sie mich das erste Mal anlächelte, war ich bezaubert. Mit ihrer Schwester war es genauso.
     »Ich habe sie hier getroffen. Sie ist hier geboren.«
     »Und Sie sagen, sie ist Jüdin?«
      Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.
     Ich nickte.
     »Ist das ein Reibungspunkt zwischen Ihnen?«
     So etwas gab es, aber die Reibung war nicht zwischen uns, sondern in mir selbst. Ich hatte nie vorgehabt, eine Jüdin zu heiraten, ich war absolut dagegen gewesen, aber wenn man sich verliebt, kann man nichts machen.
     »Ich habe sie geheiratet.«
     »Die Tatsache, daß sie Jüdin ist, hat Sie angezogen?«
     Angezogen. Es war Liebe auf den ersten Blick, aber nicht, weil sie Jüdin war. Ich war berauscht von ihr, von ihrer Schwester, ihrem Vater, der schon an jenem ersten Abend sein Vergnügen darüber kaum verbergen konnte, daß noch ein anderer Mann am Tisch saß. Gleich an jenem ersten Abend fing ich an, mich ins Herz dieser Familie einzuschmeicheln, und zwar begann ich mit ihrer Mutter, die mir noch nicht ganz traute. Eine scharfsinnige Frau, meine Schwiegermutter.
     »Es tut mir leid, Doktor, aber ich sehe nicht, wohin uns das bringen soll. Ich habe meine Stimme verloren. Andere Probleme gibt es in meinem Leben nicht.« Ich beugte mich vor und schlug mit den Knöcheln dreimal auf die Holzplatte seines Schreibtischs. Ich meinte es als Witz, ich bin kein abergläubischer Mensch.
     »Haben Sie so etwas je zuvor erlebt?« fragte er.
     »Ich habe noch nie meine Stimme verloren«, flüsterte ich.
     »Irgendwelche anderen gesundheitlichen Probleme, die keine physiologischen Ursachen zu haben scheinen?«
     »Sie meinen psychosomatische Erkrankungen?«
     Er zuckte mit seinen gepolsterten Leinenschultern.
     »Kurz nachdem ich hier angekommen war, habe ich einen Tremor an den Händen und Beinen entwickelt.
     Der erste Arzt, zu dem ich ging, sagte, ich hätte einen Anfall von Institutionitis.«
     »Wie bitte?«
     Klar, Doktor, ich werfe Ihnen nichts vor. Der Mann war ein Spinner, ich ging zu ihm, weil er einen gewissen Ruf hatte. Jeder im Marseilles wußte, wie sehr er Europa haßte. Er nannte es den Friedhof der Juden. Von ihm war nicht anzunehmen, daß er jemanden zurückschicken würde, noch nicht einmal einen Nichtjuden. Das war meine größte Angst. Wenn sie einem wegen Krankheit die Einreise verboten, würden sie einen dann nicht aus demselben Grund ausweisen? Ich wollte nicht vom eigenen Körper hintergangen werden.
      Sie werden das Husten hören.
      Gib ihm mehr Codein.
      Willst du ihn umbringen?
      Wenn die Lagerarbeiter unten sein Husten hören, sind wir verloren.
     Diese Angst, ich könnte zurückgeschickt werden, hatte mich wochenlang davon abgehalten, einen Arzt zu konsultieren. Ich lag im Bett, und das Eisengestell schlug gegen die Wand, so sehr zitterte ich, und mein angstbesessenes Gehirn halluzinierte andere stinkende Räume. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, ich ging zu dem Arzt, der Europa haßte.
     »Er sagte, ich hätte Angst, mit mir allein zu sein, und wünschte mich zurück ins D.-P.-Lager«, sagte ich zu Dr. Gabor. »Ich hatte einige Monate in einem Lager verbracht, bevor ich mein Visum bekam. Er sagte, ich wollte, daß andere Leute für mich sorgen. Institutionitis.«
     Daran merkte ich, daß die
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