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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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sicherstellen, daß die Kinder erfahren, was passiert ist, daß sich die Erwachsenen daran erinnern, daß Studenten die Geschehnisse studieren und Wissenschaftler versuchen, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben. Mein Sohn David, der an einem College in New England Geschichte lehrt, benutzt häufig die Archive des Museums. Aber irgend etwas an diesen Identitätskarten, die Touristen auf ihrem Weg ins Museum mitnehmen und danach auf der Straße in einen Papierkorb werfen können, kränkt mich. Auch wenn sie die Karten als Andenken an ihren Besuch behalten, kränkt es mich. Es ist Theater. Es erinnert mich an meine sentimentale Schwägerin, die sich stellvertretend als Opfer sieht.
     Madeleine, neben mir auf der Bank, fragte, ob ich bereit sei, ins Hotel zurückzukehren. Ich sagte, ja, das sei ich, und wir halfen uns gegenseitig beim Aufstehen. Als wir über die Brücke zu dem Platz vor der Westerkerk gingen, wirbelte der Klang der Glocken die heiße Luft auf. Nun gingen wir an der Statue vorbei. Ich wollte sie nicht anschauen.
     Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit. Sie ist die schlechte Imitation einer Degas-Tänzerin. Sogar Madeleine hatte die Statue als Kitsch bezeichnet, obwohl sie nicht weiß, wie Anne ausgesehen hat, abgesehen von Fotografien in Büchern und Zeitschriften und auf Seidentüchern, die als Souvenirs verkauft werden, so wie man es in England mit einem mittelalterlichen Turm macht, in dem Juden massakriert worden waren.
     Ich will sie nicht anschauen, aber als wir vorbeigehen, dreht sich mein Kopf von allein. Dann merke ich aber, daß es nicht die Statue ist, die meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, sondern eine plötzliche Bewegung um sie herum.
     Ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, jünger als Anne, aber größer – dieses Mädchen hat nie gehungert, dieses Mädchen ist mit Pizza und Eis und Big Macs aufgewachsen, obwohl sie nicht amerikanisch aussieht –, steht neben der Statue. Ihre Finger legen sich um Annes bronzene Hand, ihr blonder Pferdeschwanz ruht an Annes Kopf, ihr Lächeln ist scheu, aber stolz.
     »Lächeln«, ruft ein Mann hinter mir, obwohl das Gesicht der Kleinen bei einem Versuch, noch breiter zu lächeln, zerreißen würde.
     »Lächeln!« erklingt eine Frauenstimme hinter mir.
     Ich drehe mich um und sehe ein Paar, das Gesicht des Vaters halb verdeckt von einer digitalen Kamera, die Mutter fast so breit lächelnd wie die Tochter.
     »Lächeln«, rufen sie noch einmal, während sich ihre Köpfe einander nähern, um das digitalisierte Bild ihrer Tochter zu betrachten, die an der bronzenen Statue eines jüdischen Mädchens hängt.
     Madeleine nimmt meinen Arm und fängt an zu gehen. Mein Temperament ist mit dem Alter ruhiger geworden und hat sich seit meiner Beichte abgekühlt. Ich drehe nicht mehr grundlos durch. Aber noch immer traut sie mir nicht, besonders nicht in einer Situation wie dieser. »Es ist nur eine Statue«, sagt sie, während sie versucht, mich wegzuführen.
     Sie hat recht, natürlich. Es ist nur eine Statue von Anne, gedacht als Tribut. Die Statue ist weniger als die Wirklichkeit, und mit ihrer Fähigkeit, Erinnerung zu wecken und zu verwässern, zugleich auch mehr.
     Ich lasse mich von Madeleine weiterführen, aber ich kann nicht anders, ich muß mich alle paar Schritte umdrehen und die Familie betrachten, die dabei ist, das Glück ihrer Ferien zu dokumentieren. Sie sind nicht schuld. Das Paar sieht jung aus, jünger als meine Kinder. Ihre Eltern waren vielleicht noch nicht geboren, als ich ins Versteck ging. Und das Kind ist nur ein Kind. Aber ich kann mir nicht helfen. Ich erkenne die Ironie dessen, was ich sage, die Absurdität. Wer ist hier schuld, die deutsche Familie oder ich? Aber es gibt noch genug Schuld, die alle beschäftigen wird.
     Als ich weggehe, sage ich mit einer Stimme, laut genug, daß der Deutsche mit der Kamera, seine ignorante Frau und das unwissende Kind es hören können, schrill genug für die Besitzer der Verkaufsstände und für die Leute, die auf ihrem Weg nach Hause Blumen kaufen, und sogar laut genug, daß einige der Radfahrer, die an der Ampel warten, ihre Köpfe nach uns umdrehen, laut genug, um ein Zittern in meiner eigenen Brust zu bewirken. »Mein Gott, haben sie kein Gedächtnis?«

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DANKSAGUNG

    Im Winter 1994 wurde bei einem Besuch des Anne-FrankHauses meine Phantasie durch die Bemerkung einer Führerin angeregt, daß das Schicksal aller Bewohner des
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