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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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zwei Freunde bei der Abschlußfeier nackt durch den Raum gerannt waren. Flitzer nannte man das. Verglichen mit dem, was mit einigen Kindern in der Nachbarschaft passierte – Drogen, Sekten, betrunken einen Verkehrsunfall verursachen, bei dem zwei junge Leute starben –, hatten wir Glück gehabt. Madeleine fing wieder an zu studieren, um ihren M. A. in Literatur zu machen, und übernahm eine Stelle an der Schule, von der David fast geflogen wäre. Nachdem unsere Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie, es mit kichernden Mädchen zu füllen, die sie bewunderten und sich selbst Ms van Pels' Groupies nannten. Ich glaube, meine Frau war glücklich.
     Der Krieg war eine alte Geschichte, so alt, daß manche Leute anfingen zu sagen, der Holocaust, wie man es jetzt nannte, habe nie stattgefunden, Anne hätte ihr Tagebuch nie geschrieben. Es wäre eine Fälschung, behaupteten die Leugner. Anne und Peter seien keine jüdischen Namen. Das Papier und die Tinte hätte es Anfang der vierziger Jahre nicht gegeben. Das Geschriebene wäre zu gut, um aus der Feder einer Jugendlichen zu stammen, die Einsichten zu scharfsinnig, die Empfindungen zu tiefschürfend. Das Tagebuch sei das schlaue Produkt eines jüdisch-amerikanischen Autors namens Meyer Levin, behaupteten sie. Armer Levin, er hatte immer gesagt, er spräche mit der wahren Stimme Annes. Ich schwieg noch immer. Wichtigere Leute als ich sagten aus. Otto verklagte einige dieser Neonazis und gewann vor Gericht, doch das hinderte sie nicht daran, weiterzumachen. Das Niederländische Staatliche Institut für Kriegsdokumentation veröffentlichte die sogenannte Kritische Ausgabe des Tagebuchs, vollständig, mit den Gutachten von Schriftsachverständigen, Historikern und Gelehrten, aber die Angriffe gingen weiter. Was würde der Protest eines ordinären amerikanischen Geschäftsmannes bringen, der zufällig so hieß wie ein Junge, der seit Jahrzehnten tot war?

    Am Morgen des 21. August 1980 fand ich, als ich herunterkam, neben meinem munter machenden Kaffee und neben dem üblichen Toast auch die Zeitung auf dem Tisch liegen. Ich setzte mich hin und schlug die Times auf. Madeleine goß mir Kaffee ein. Ich hatte meinen Toast gegessen und trank bereits die zweite Tasse Kaffee, als ich die Seite mit den Todesanzeigen umblätterte.

    OTTO FRANK,
    VATER VON ANNE,
    GESTORBEN IM ALTER VON 91 JAHREN

     Ich stellte meine Tasse ab und starrte die Überschrift neben dem Foto des vertrauten Gesichts an, das jetzt knorrig wie ein alter Baumstrunk aussah. Ich konnte nicht anders, ich mußte anfangen zu rechnen. Mein Vater war mit sechsundvierzig gestorben. Jünger als ich jetzt. Hätte Otto noch ein weiteres Jahr gehabt, wäre er genau doppelt so alt geworden wie mein Vater. Er hatte sechsmal länger gelebt als Anne. Aber er hatte ihr Andenken lebendig gehalten. Er hatte es poliert, bis es glänzte wie ein Fanal oder, wie manche sagen würden, wie eine Jupiterlampe, die die Menschen so blendet, daß sie die blutigeren Wahrheiten der Vergangenheit nicht mehr sahen. Was immer er meinem Vater und Pfeffer und den anderen angetan hatte, er hatte Anne nicht untergehen lassen. Das mußte ich ihm zugestehen.

    Ich lud Madeleine ein, mit mir zusammen nach Amsterdam zu fahren. Ich wollte sie dabeihaben, egal, was sie dachte. Aber da sie sich nicht in der Schule freinehmen wollte, die schließlich nicht unsere Rechnungen bezahlte, konnte sie auch nicht erwarten, daß ich meinen Urlaub auf unsere Hauptarbeitszeit legte. Deshalb fuhr ich allein nach Amsterdam.
     Ich war neugierig darauf, wie sehr sich die Stadt verändert hatte, aber ich plante keinesfalls, zur Prinsengracht 263 zurückzukehren. Das war der einzige Grund, weshalb es mir nicht leid tat, daß Madeleine nicht mitgekommen war. Sie hätte darauf bestanden, das Anne-Frank-Haus zu besichtigen. So hieß das Gebäude jetzt. Es war die wichtigste Touristenattraktion der Stadt. Madeleine hätte um nichts auf der Welt darauf verzichtet.
     Es muß am Jetlag gelegen haben. Ich hätte mich nie verirrt, wäre mein Blick nicht getrübt gewesen, wäre ich nicht durcheinander gewesen. Um die Wahrheit zu sagen, ich erkannte die Stadt nicht wieder, aber ich habe einen ausgezeichneten Orientierungssinn. In all den Jahren, in denen ich mit Madeleine herumgereist bin, habe ich uns durch fremde Städte und über Landstraßen ohne Wegweiser gebracht, ohne die Orientierung zu verlieren. Aber an jenem Nachmittag verlor ich sie und landete an der Prinsengracht,
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