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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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von medizinischen Experimenten an Menschen, die zufällig rote Haare hatten, oder an Kindern, die zufällig Zwillinge waren. Ich weinte wegen eines Paradieses, das ich für meine Frau und meine Kinder zu schaffen versucht hatte, und ich weinte auch wegen mir und wegen meines Versagens. Als sich die stillen Tränen in Schluchzen verwandelten und die Leute sich nach mir umdrehten, weinte ich wegen des zweiten Mordes an meinen Eltern, des Mordes, den ich dadurch begangen hatte, daß ich sie totschwieg.

    Es ist seltsam, wie verschieden Menschen darauf reagieren, daß sie zum Narren gehalten worden sind. Manche nehmen es persönlich, obwohl meine Frau, die einzige außer meinen Kindern, die das Recht dazu gehabt hätte, es nicht tat. Sie wußte, daß die Lügen nichts mit ihr zu tun hatten. Ihre Reaktion bestand in Erleichterung. Sie hatte immer einen gewissen Verdacht gehabt. Es beruhige sie, sagte sie, zu wissen, daß das, was ich verbarg, nichts Schlimmeres war. Ich fragte sie nicht, was sie mit dem Schlimmeren meine. Ich konnte mir die Verbrechen, die ich hätte begangen haben können, besser vorstellen als sie.
     Meine Kinder machten mir auch keine Vorwürfe. Anders als ihre Mutter konnten sie sich allerdings nicht vorstellen, warum ich die ganzen Jahre geschwiegen hatte. Vielleicht hatte ich letztlich doch nicht versagt in meinen Bemühungen, sie zu schützen.
     Die Kinder reagierten stark auf ihre neue Vergangenheit. Abigail bekam in jenem Frühjahr ihr erstes Kind, meinen ersten Enkel, und nannte ihn Herman, mit einem n, und kürzte den Namen zu Hank ab. Zwei Jahre später nannte sie ihre Tochter Augusta, nach meiner Mutter. Ich war überrascht und erfreut. Vier Jahre später nannte Betsy ihren ersten Sohn Peter. Sie hatte ihren Namen nicht geändert, als sie heiratete – ich konnte es nicht verstehen, aber sie erklärte, ihre Doktorurkunde sei auf den Namen van Pels ausgestellt, und da ihr Ehemann sich nicht beklagte, brauchte ich es auch nicht zu tun. Das bedeutete, daß der Junge nun Peter van PelsGallagher hieß. Es war, wie der Zollbeamte vor vielen Jahren gesagt hatte, ein guter amerikanischer Name.
     Mein Partner Harry war froh. Er hatte es nie verstanden, warum wir so gut miteinander auskamen. Daß ich Jude war, stellte endlich sein Vertrauen in die Ordnung der Welt wieder her.
     Die Reaktion der anderen Menschen war gedämpfter. Ich will damit nicht sagen, daß ich nun herumlief und der Welt meine Identität verkündete, aber irgendwie sprach es sich herum. Oder vielleicht bildete ich mir das nur ein. Vielleicht sah ich eine Veränderung im Blick der Leute und in ihrem Verhalten, weil ich es erwartete. Die Angewohnheit, die Welt in zwei Lager zu teilen, stirbt nicht so leicht. George Johnson behandelte mich natürlich weiterhin mit derselben professionellen Freundlichkeit.
     Am schwersten nahm meine Schwägerin Susannah die Nachricht auf. Sie konnte mir meine unermeßliche Sünde nicht verzeihen. Ich hatte es ja schon vor vielen Jahren erfahren, daß sie unfähig war, einen Nichtjuden zu lieben, aber einen Juden, der versucht hatte, die Seiten zu wechseln, konnte sie nur hassen, oder, wie ihr Ehemann es formulierte, der ähnlich kritisch war, aber nicht so wortgewandt, einen Juden, der versucht hatte, »sich weiß zu kaufen«. Sie warf mir vor, ein sich selbst hassender Jude zu sein, sogar ein heimlicher Antisemit. Sie hörte sich an wie Meyer Levin, der über Otto Frank schimpfte, obwohl ich langsam glaube, daß Otto sich in seinem leichtgewichtigen jüdischen Mantel wohler gefühlt hat als der arme Levin je in seiner dünnen jüdischen Haut.
     Madeleine verteidigte mich ihrer Schwester gegenüber. Der Streit war so ernst, daß sie zehn Tage lang nicht miteinander telefonierten, was in ihrer Familie ein Rekord war. Madeleine bestand darauf, daß Susannah nur deshalb so wütend sei, weil sie mich damals geheiratet hätte, wenn ich ihr vor dreiunddreißig Jahren die Wahrheit gesagt hätte. Dieses Argument war schmeichelhaft, aber nicht überzeugend. Susannah war glücklich mit Norman, und ganz sicher wußte sie, daß ihre Schwester mit mir auch miserable Zeiten erlebt hatte. Aber vielleicht hat meine Frau doch nicht ganz unrecht. Ist die Vorstellung, daß Susannah etwas für mich übrig haben könnte, absurder als die, daß sie Gott in sechs Millionen Leichenhemden gefunden hat? Ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie einen Groll gegen mich hegt, weiter hergeholt als ihre Neigung, ein Leid zu tragen,
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