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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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eingeschmolzen wurden und die Stille noch unerträglicher geworden war. Aber hier, auf der Straße, brachte das Läuten die Luft kaum zum Erzittern. Der Heringsverkäufer schloß seinen Stand, doch der Blumenverkäufer und der Zeitungs- und Tabakkiosk machten noch gute Geschäfte. Radfahrer fuhren nach Hause, ihre Brieftaschen, ihre Einkäufe und ihre Kinder in Holzkörben, die am Lenkrad oder auf dem Gepäckträger befestigt waren. Die vielen Radfahrer waren besser gekleidet, als ich mich an sie erinnerte, und es gab mehr Frauen unter ihnen. Früher wären die Frauen um diese Zeit zu Hause gewesen und hätten das Abendessen gekocht.
     Ich muß damals vielleicht zehn oder elf gewesen sein. Zehn, glaube ich, denn es ist ein früher Sommerabend, und ich würde im Herbst elf werden. Mein Vater und ich sind auf dem Heimweg zu unserer Wohnung, wo meine Mutter noch immer die wenigen Sachen auspackt, die wir aus Osnabrück haben mitbringen können. Mein Vater ist voller Optimismus. Es ist, als hätte er die Angst und die Unschlüssigkeit, die ihn im Zug dazu gebracht hatten, mich anzuschnauzen, an der Grenze zurückgelassen. Er ist Niederländer von Geburt, dies ist eine Rückkehr nach Hause. Wir haben Deutschland und seine wahnsinnige neue Ordnung hinter uns gelassen. Eines Tages werden die Deutschen schon wieder zur Vernunft kommen. Bis es soweit ist, wird es uns hier, in Amsterdam, bessergehen. Wir werden sicher sein. Im letzten Krieg waren die Niederlande neutral geblieben.
     Als mein Vater und ich darauf warten, daß die Ampel umschaltet, tastet er erst über die eine Tasche, dann über die andere, auf der Suche nach seinen Zigaretten. »Nur eine Minute«, sagt er und läuft zu dem Stand hinüber. Ich folge ihm, hoffe auf eine Süßigkeit, weiß aber schon, daß es eine vergebliche Hoffnung ist. Wir sind auf dem Heimweg und essen gleich zu Abend.
     Vor dem kleinen Stand stehend, nimmt mein Vater die Schachtel Zigaretten von dem Verkäufer in Empfang, reißt sie auf, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hält ein Streichholz daran. Erst dann nimmt er das Wechselgeld von dem kleinen Metalltablett. Er will die Münzen gerade in die Tasche stecken, da scheint er es sich anders zu überlegen. Meine Hoffnung steigt. Aber er geht zu dem Blumenstand hinüber.
     »Was meinst du, Peter, Lilien oder Tulpen?« Er schlägt keine Nelken vor. Nelken bekommt meine Mutter jedes Jahr zum Geburtstag. Dieser Anlaß ist einzigartig. Er fragt nicht nach Rosen. Die sind zu teuer für uns.
     Obwohl alles in Ordnung sein wird, sobald er wieder auf die Füße gekommen ist. Schließlich war es nicht billig, sich dem Griff der Nazis zu entziehen. Aber wer braucht schon Rosen, wenn Lilien in der Dämmerung schimmern und Tulpen wie Flammen brennen?
     Als wir weitergehen, ist sein Kinn erhoben und sein Rücken aufrechter. Er hebt die Hand und rückt seinen Hut etwas flotter auf die Seite. Er ist wieder ein Mann, der Mann, den ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen habe. Ich kann mit seinen langen großspurigen Schritten kaum mithalten. Die Süßigkeiten habe ich vergessen. Ich vergesse auch die Jungen im Schulhof, die mich einen Christusmörder genannt haben. Ich versuche, mit meinem Vater mitzuhalten, der durch den rosigen Amsterdamer Abend eilt, zu meiner Mutter, die gleich die Tür der frisch geputzten, nach Abendessen duftenden Wohnung aufmachen und ihren Mann und ihren Sohn dastehen sehen wird, mit einem Strauß brennend roter Tulpen zwischen sich.
     Ein Mann stieß gegen meinen Rücken, entschuldigte sich und ging weiter, aber ich bemerkte plötzlich die Passanten. Sie starrten mich an, dann schauten sie schnell weg, verlegen, aber nicht erstaunt. Wir standen einen Steinwurf weit vom AnneFrank-Haus entfernt. Weinende Touristen sind hier keine Seltenheit. Aber ich weinte nicht wegen irgend etwas in diesem Haus. Ich weinte wegen der Unschuld jenes Vaters, der durch das vom Sonnenuntergang gerötete Amsterdam nach Hause lief, wegen der Hoffnung jener Frau, die eine neue Wohnung für ein neues Leben putzte, wegen des Jungen, der dachte, er sei sicher. Ich weinte wegen einer Welt, die einen Krieg kommen sah, die das Schlimmste fürchtete, aber keine Ahnung hatte, wie schlimm das Schlimmste wirklich sein würde. Ich weinte wegen einer Welt, die, bei allem Elend, noch nie etwas von Konzentrationslagern gehört hatte, von Sammelduschen, aus denen der Tod sprühte, von Schornsteinen, die menschliche Asche verstreuten, oder
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