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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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doch kein so schlechter Platz sein, und eine Frau, die nie ihr Städtchen in Rumänien verlassen hatte, schließlich ihrer Sozialarbeiterin glaubte, die versprochen hatte, daß es in Indianapolis keine Indianer gab. Mir war klar, daß ich unbedingt von dort weg mußte, und nicht mit Hilfe des Tangos.
     »Ich fand ein Zimmer«, sagte ich zum Doktor.
     Alle hatten gesagt, es sei unmöglich. Hatte ich denn nichts von der Wohnungsknappheit gehört? Überall im Land lebten die Menschen in alten Armeebaracken und Waggons und auf anderer Leute Veranden. Ein Paar hatte sich im Schaufenster eines Kaufhauses eingerichtet, in der Hoffnung, jemand würde auf es aufmerksam und ihnen eine Wohnung vermieten. Aber ich schaffte es, ein Zimmer zu finden, eigentlich einen Schlauch mit einem einzigen Fenster am Ende, auf Höhe des Bürgersteigs. Es kostete neun Dollar im Monat, und ich hatte das Glück, es zu bekommen. Sogar der Souterrainausblick machte mir nichts aus. Spät am Abend oder frühmorgens lag ich im Bett und beobachtete die Füße der Passanten. Gelegentlich kam ein Paar hoher Absätze mit freien Zehen vorbei. Die lackierten Nägel blinzelten mir zu, und in Gedanken schickte ich einen Sturm los, der die Trägerin solcher gar nicht unschuldiger Schuhe mit wehenden Haaren und auffliegendem Kleid durch das Fenster in mein enges Eisenbett zog.
     »Ich fand einen Job. Als Kellner. Nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, fuhr ich auch Taxi.«
     »Sehr beeindruckend«, sagte Dr. Gabor, aber er konnte sich einen Blick auf seine Diplome und Zeugnisse, mit denen seine Wand tapeziert war, nicht verkneifen, um sicherzugehen, daß sie noch alle da waren.
     Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu sagen, daß das nicht so beeindruckend war. Wir hatten alle mehr als einen Job gehabt. Manche gingen auch noch zur Abendschule, aber dafür war ich nicht geduldig genug. Ich konnte noch nicht einmal stillsitzen und lesen. Ich versuchte es. Ich ging zur Bibliothek und entlieh mir Bücher. Damals, in jenem beengten, stinkenden Versteck, waren Bücher unsere Fluchtmöglichkeit gewesen. Wir hatten uns durch Goethe und Schiller und Dickens und Thackeray gearbeitet. Aber in Amerika brauchte ich keine Fluchtmöglichkeit mehr. Wer wollte schon aus dem Gelobten Land fliehen? Wenn ich eine oder zwei Seiten in diesen Bibliotheksbüchern gelesen hatte, legte ich sie wieder zur Seite, nahm Hut und Mantel und stieg die drei Stufen von meinem Souterrainzimmer zur wirklichen Welt hinauf, die sich direkt vor meiner Tür befand, plötzlich erreichbar.
     Ich streunte durch die Fulton Street und Borough Hall und über die Grand Army Plaza, ging über die Brooklyn Bridge, lief den Broadway entlang, die Park Avenue hinunter und überquerte den East River zum Hudson und zurück. Ich schlenderte in Prospect und Riverside und im Central Park herum, beobachtete junge Mütter mit Kleinkindern und Kindermädchen mit großen englischen Kinderwagen, blieb auf der Straße stehen und sah Jungen beim Stickball-Spielen zu und folgte diskret elegant gekleideten Frauen die Fifth Avenue hinauf und die Madison hinunter. Einmal fuhr ich auch oben in einem Doppeldeckerbus, weil ich in der Zeitung gelesen hatte, sie würden durch einstöckige Busse ersetzt, aber ich war zu unruhig für die ganzen Verkehrsstockungen und die langen Aufenthalte, wenn Passagiere aus- und einstiegen und in ihren Taschen nach Münzen kramten. Wenn ich mit etwas fuhr, zog ich die Hochbahn vor. Ich liebte die Geschwindigkeit und die heimlichen Blicke in anderer Leute Leben. Ich saß in einem der gelb beleuchteten Wagen und spähte durchs Fenster in die Harlemer Mietskasernen voller Kinder, in die Appartements von Tudor City, wo sich Frauen über den Herd beugten und Männer dasaßen und die Zeitung lasen, und in das wohlhabende Brooklyn, wo die Mitglieder ganzer Familien ihren individuellen, aber miteinander verknüpften Beschäftigungen in einem Setzkasten beleuchteter Innenräume nachgingen. Manchmal, wenn ich in der Hochbahn saß und sie quietschend und ratternd um die Ecken schwankte, hätte ich am liebsten meinen Mund aufgerissen und die Leere in einem langen, durchdringenden Geheul aus mir herausgelassen. Doch sogar das war besser als Lesen. Ich hatte keine Geduld für Geschichten, die nicht wirklich waren, oder Informationen, die ich nicht sofort anwenden konnte.
     Mit Filmen war es etwas anderes. Im Kino konnte ich mein Englisch perfektionieren. Einmal rief eine Frau aus der Reihe vor mir
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