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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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setzten Anzeigen in Zeitungen und belästigten jeden, der ihnen die Uhrzeit gab. Und je länger sie fragten, um so mehr quälten die Antworten sie.
     »Vielleicht kannten Sie meinen Vater«, wiederholte der Mann, obwohl er gemerkt haben mußte, daß ich versuchte, von ihm wegzukommen. »Fritz Pfeffer. Er war Zahnarzt in Amsterdam.«
     Das war also Werner, der Sohn, gerade mal ein Jahr jünger als ich, den Pfeffer vernünftigerweise gleich nach der Kristallnacht mit einem Kindertransport nach England geschickt hatte. Ich war um die halbe Welt gereist, um ausgerechnet diesen Jungen zu treffen, den ich zwei Jahre lang beneidet hatte. Ich schuldete ihm nichts, noch nicht einmal eine Information. Ich schlug ihm vor, sich mit dem Roten Kreuz in Verbindung zu setzen.
     »Das habe ich schon getan. Mein Vater starb in Neuengamme. Ich suche nach Menschen, die ihn kannten, nachdem ich weg war.« Er senkte für einen Moment den Blick, aber er würde mir nicht leid tun. Er hatte den Krieg in England verbracht. »Ich habe gehört, er war untergetaucht, zusammen mit einer Familie Frank«, sagte er.
     Ich sagte, ich wisse nichts von einem Zahnarzt namens Pfeffer oder einer Familie namens Frank. Die Wahrheit hätte ihm keinen Trost gebracht. Wahrscheinlich sind Sie da anderer Meinung, Doktor, aber Sie sind nicht in der Position, um zu richten. Sie wissen nichts von der Bösartigkeit von Erinnerungen.
     »Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte ich zu dem Doktor. »Ich bin mit dem Schiff gekommen. Es legte in New York an. Ich war, wie gesagt, glücklich, hier zu sein.«
     »Wo haben Sie nach Ihrer Ankunft zuerst gelebt? Bei einer Familie? In einer Einrichtung?«
     Einrichtung. Noch so ein Wort. Aber wie sollte man das Marseilles sonst nennen? Es war kein Hotel mehr, trotz der geschnitzten Buchstaben an der Fassade, nur eine Zwischenstation auf der Reise des Elends, eine laute, halb zerfallene, kurze Unterbrechung für alte Leute von Vierzig oder Fünfzig, die nie im Leben Englisch lernen würden, weil sie Angst vor den Geschichten hatten, die sie erzählen könnten, und für Kinder, die zitterten, wenn sie sich für den Speisesaal aufstellen mußten oder den Arzt oder die Duschen, und für Männer und junge Mädchen mit argwöhnischen Augen und brüchigem Lächeln und fertigen Antworten auf jede Frage, einem Dutzend Antworten, sag nur, welche du hören willst. Ein Mädchen, das lange blonde Haare hatte, durch die sie sich ständig mit den Fingern fuhr, als wolle sie sich versichern, daß sie wirklich da waren, schenkte mir immer ein Lächeln, so dünn wie die neuen Zehncentstücke in meiner Tasche, wenn wir im Foyer aneinander vorbeigingen. Ich lächelte zurück, blieb aber nie stehen.
     Oder sollte ich vom Marseilles-Tango erzählen, Doktor? Wie könnte ich diesen traurigen Tanz der Verzweiflung jemandem wie Ihnen beschreiben, mit Ihrem Wall von Zeugnissen und Diplomen, die aus Ihnen eine aufrechte, erstklassige Säule jedweder Gesellschaft machen? Sogar wenn Sie den Tanz gesehen hätten, Sie hätten die Schritte nicht erfaßt.
     Sie versammelten sich vor der Landkarte. SO SIEHT AMERIKA AUS, stand in kindlich großen Buchstaben darüber. Ein Mann oder eine Frau oder ein Kind deutete auf einen Punkt. Die Bewegung war blind, zufällig, wie bei einem Kindergeburtstagsspiel. Der andere Tänzer – eine Ehefrau, ein Vater, eine alte Tante, durch deren Herz einige Tropfen desselben Blutes gepumpt wurden – folgte dem vorrückenden Finger und landete an dem Punkt. Greensboro. Cleveland. Detroit. Dann nahm einer das rote oder weiße oder blaue Band, das an dem Punkt befestigt war, zwischen Daumen und Zeigefinger und suchte das entsprechende Bild, das an der Wand neben der Karte befestigt war. Und nun begann die Diskussion. Wie jeder Tango war auch der, der in der Lobby des Marseilles getanzt wurde, leidenschaftlich.
     »Es sieht zu sehr aus wie Lodz.«
     »Was redest du da, es sieht kein bißchen wie Lodz aus.«
     »Dort gibt es zu viel Schnee. Wir werden uns zu Tod frieren.«
     »Schau doch diese Palmen. Ein Dschungel, in den sie uns schicken.«
     Sie bewegten sich rückwärts und vorwärts, sie deuteten auf die Karte, betrachteten die Bilder, lasen Omen in der Vertrautheit einer gotischen Fassade, dem schmeichelnden Klang eines Straßennamens, den zufriedenen Blicken einer Gruppe fremder Menschen, bis ein Geiger, der in einem Streichquartett in Budapest gespielt hatte, entschied, die Heimat vom Philadelphia Orchestra könne
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