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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich
Autoren: Fabio Volo
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    [9]  Ich bin der Sohn eines nie zur Welt gekommenen Vaters. Um das zu begreifen, brauche ich nur sein Leben zu betrachten. So weit ich zurückdenken kann, habe ich kaum je Zufriedenheit in seinem Blick gesehen: Genugtuung ab und zu, Freude vielleicht nie.
    Und weil das so war, konnte ich auch mein eigenes Leben nie in vollen Zügen genießen: Wie kann ein Sohn sein eigenes Leben leben, wenn der Vater seins nicht gelebt hat? Mancher schafft es vielleicht trotzdem, aber es ist verdammt schwer. Die Maschinerie der Schuldgefühle arbeitet unablässig.
    Mein Vater ist sechsundsiebzig Jahre alt, er ist hager, und seine Haare sind grau. Er war immer ein sehr kräftiger Mann, ein Malocher. Jetzt ist er ausgelaugt, müde, gealtert. Das Leben hat ihn enttäuscht. So sehr, dass er sich ständig wiederholt, wenn er darüber spricht. Ihn so zu sehen rührt stark an meinen Beschützerinstinkt. Es geht mir ans Herz, ich empfinde Mitleid, ich möchte etwas für ihn tun, ihm irgendwie helfen. Und ich fühle mich ohnmächtig, weil ich denke, dass ich nicht genug tue, nicht genug bin.
    In den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, ihn heimlich zu beobachten. Danach bin ich dann meist [10]  irgendwie aufgewühlt, aber ohne konkreten Grund, abgesehen von diesem Knoten im Bauch, den ich seit je in mir spüre und der mich an ihn fesselt.
    Unsere Beziehung war stets schwierig, und unsere Liebe ist von der Art, die nur kennt, wer den Mut hatte, den anderen zu hassen: eine wahrhaftige, im Schweiße unseres Angesichts erarbeitete, gewollte und erkämpfte Liebe.
    Um die ganze Welt habe ich reisen müssen, damit ich lernte, ihn zu lieben. Je weiter ich mich von ihm entfernen wollte, desto näher kam ich ihm: Die Welt ist rund.
    Eine Zeitlang haben wir nicht miteinander geredet. Wenn man mit einem Elternteil nicht reden kann, ist man irgendwie schwach auf den Beinen, man muss sich immer wieder mal kurz hinsetzen. Nicht, weil einem schwindlig wird, sondern weil einen der Magen drückt. Bauchweh, das war mein Vater für mich. Ihn wirklich lieben konnte ich erst, nachdem ich meine ganze Wut ausgekotzt hatte, meinen Hass und meine Schmerzen, denn viele dieser Gefühle waren mit seinem Namen verbunden.
    Als ich klein war, hätte ich gern öfter mit ihm gespielt, aber immer nahm die Arbeit ihn mir weg. In meiner Erinnerung sehe ich ihn vor allem in zwei Situationen: wie er sich bereitmacht, zur Arbeit zu gehen, und wie er sich, erschöpft von der Arbeit, ausruht. Ich hatte zu warten, ich kam immer an zweiter Stelle.
    Mein Vater war nie greifbar, und das ist auch heute noch so. Früher war es die Arbeit, die ihn mir wegnahm, heute ist es die Zeit, die ihn mir Stück für Stück raubt, [11]  ein Gegner, mit dem ich mich nicht messen, mit dem ich es nicht aufnehmen kann. Darum verspüre ich heute wieder jenes Gefühl der Ohnmacht, das ich als Kind verspürte.
    Wenn wir uns sehen, fällt mir jedes Mal auf, dass er noch mehr gealtert ist, und ich spüre, wie er mir mit jedem Tag ein Stück mehr entgleitet. Ich halte ihn nur noch an seinen Fingerspitzen fest.
    Wenn ich diesen nie zur Welt gekommenen Mann anschaue, dann kommt mir der Satz in den Sinn, den Marlon Brando über seinem Bett hängen hatte: »Wer nicht versteht zu leben, lebt nicht.« Ich bin jetzt siebenunddreißig, und immer noch frage ich mich, was ich bloß für ihn tun kann. Doch obwohl er so alt und hilflos ist, obwohl es so scheint, als wäre ich jetzt der Stärkere von uns beiden, weiß ich, dass es nicht so ist. Er ist der Stärkere. War es immer. Weil ein einziges Wort von ihm genügt, mich zu verletzen. Oder weniger noch: ein nicht gesagtes Wort, ein Schweigen, ein Pausieren. Ein Blick, der sich von mir abwendet. Ich kann stundenlang schreien und toben und ihn beschimpfen – von ihm braucht es nur eine kleine Grimasse, um mich niederzumachen, nur ein kurzes Verziehen des Mundwinkels.
    Im Erwachsenenalter war er mein Bauchweh, als Kind mein schiefer Hals. Bei allem, was ich tat, reckte ich meinen Kopf, um einen Blick, ein Wort, irgendeine Reaktion von ihm zu erhaschen. Seine Gesten waren kurz und schroff: ein kurzes Tätscheln des Kopfes, ein kleines Zwicken in die Wange, während er das Bild, das ich für ihn gemalt hatte, auf die Anrichte weglegte. Mehr [12]  vermochte er mir nicht zu geben, nicht nur weil er meinen Schmerz, meine Bedürfnisse und meine Wünsche nicht wahrnahm, sondern weil er seine eigenen nicht kannte. Er war es nicht gewohnt, Gefühle auszudrücken, ihnen
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