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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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meinen Mund aufzumachen und Worte zu formen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Nun gelang es mir, ein klägliches Wimmern auszustoßen, schwach wie das eines Babys. Nein, ein Baby kann schreien. Man sollte nur meine Tochter gehört haben, wie sie brüllte, als der Arzt sie ins Leben zog. Ihr Schrei hallte in der ganzen Welt wider. Ich hatte meinen Mund zu einem lauten Jubel geöffnet, doch ihr Anblick, wie sie an ihren schleimig-glitschigen Füßen festgehalten und geschwenkt wurde, roh und blutig wie ein Stück Fleisch, erstickte den Laut in meiner Kehle. Ich stellte mir vor, wie sie auf den Boden fiel und über das gemusterte Linoleum rutschte. Ich stellte mir vor, wie der Doktor einem wilden Bedürfnis nachgab, meine Tochter durch die Luft flog und gegen die kalkweiße Wand knallte. Meine Frau bezweifelt meine Erinnerung an den Anblick unserer neugeborenen Tochter. Sie sagt, ich hätte nicht dort sein können. Aber sie stand damals unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln, und ich weiß, daß ich mich nicht irre. Vielleicht schlich ich vor dem Kreißsaal herum und erhaschte nur einen Blick durch die geöffnete Tür. Der Anblick meiner Tochter brachte mich damals zum Schweigen, und irgend etwas hat mir jetzt meine Stimme geraubt. Niemand kann mir erklären, wie das kommt.
     Ich war schon bei einer ganzen Armee von Ärzten. Sie steckten Tuben in meine Kehle, sie machten Röntgenbilder von meinem Nacken und drückten da und dort, untersuchten und stellten endlose Fragen. Ich mußte die Antworten auf einen Block schreiben. Was essen Sie? Alles. Wieviel trinken Sie? Nicht viel. Rauchen Sie?
     Das fragten alle, und ich sagte, daß ich das nicht tat. Haben Sie jemals geraucht? Sie klangen wie eine jener Senatsanhörungen, von denen man immer in der Zeitung liest. Sind Sie jetzt das und das, oder sind Sie es je gewesen? Nie, schrieb ich, obwohl ich als Jugendlicher gelegentlich Zigaretten probiert hatte. Ich mag den Geruch noch immer. Aus irgendwelchen Gründen finde ich ihn beruhigend. Aber das Vergnügen aus zweiter Hand reichte mir, ich hatte es mir nie angewöhnt. Das teilte ich ihnen nicht mit. Auch ohne diese unwesentlichen Details gab es genug aufzuschreiben.
     Sie gingen über zu den Allergien. Sind Sie auf irgend etwas allergisch? Nicht daß ich wüßte, schrieb ich auf den Block. Und als Kind? Ist etwas bekannt über Allergien in der Kindheit? Nein, kritzelte ich. Nichts bekannt über die Kindheit. Die war konfisziert, verbrannt, aus der Existenz bombardiert. Sie war an einem geheimen Ort versteckt, so geheim, daß ich mich nicht an sie erinnerte. Doch das schrieb ich auch nicht auf.
     »Kam der Verlust allmählich?« fragte mich Dr. Gabor nun. »Geschah es plötzlich, oder haben Sie gespürt, wie Ihre Stimme schwächer wurde?«
     »Über Nacht«, krächzte ich. »Buchstäblich. Ich ging mit Stimme schlafen und wachte ohne auf.«
     »Ist in jener Nacht etwas Außergewöhnliches passiert?«
     Ich schüttelte den Kopf.
     »Was ist mit Träumen?«
     »Ich träume nicht.«
    Er starrte mich weiter an.
    »Nein, tue ich nicht«, wiederholte ich.
     Er lehnte sich weiter in seinem Stuhl zurück und schaute mich über die lange, schmale Nase an, die ein Gesicht teilte, das so flach war wie die große ungarische Ebene. »Erzählen Sie mir von sich, Herr van Pels.«
     »Ich bin Bauunternehmer von Beruf«, flüsterte ich. »Ich habe eine Frau und zwei Töchter, eine ist drei Jahre alt und eine achtzehn Monate. Ich lebe in Indian Hills. Das ist unser Projekt, meins und das meines Partners.«
     Gabor schaute vom Block auf.
     »Das ist alles«, krächzte ich.
     »Wo wurden Sie geboren? Ich bemerke einen leichten Akzent.«
     Sie bemerken einen leichten Akzent, Doktor? Ausgerechnet Sie mit der singenden Sprechweise, die sich bewegt wie die ungarische Fahne im Wind. Ich habe bisher noch keinen Ihrer Landsleute getroffen, der sich von diesem Tonfall befreien konnte. Mein Akzent verrät weniger. Nicht richtig deutsch, fangen die Leute an, wenn sie versuchen, mich einzuschätzen. Ein Hauch Niederländisch, raten sie. Du hast britisches Englisch gelernt, kein amerikanisches, bemerkte meine Frau, als ich zum ersten Mal mit ihr sprach. Sie behauptet, sie habe sich in meinen französischen Akzent verliebt, obwohl ich ihr immer sage, er ist nicht so gut, wie sie denkt.
      Ich bin vielleicht besser in Französisch, Peter, aber du bist viel besser in Englisch.
     »Osnabrück«, flüsterte ich.
     »Sie sind
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