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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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Tremoranfälle nicht psychosomatisch waren. Denn das Letzte, was ich mir wünschte, war, von der Gnade anderer abzuhängen.
     »Verschwanden die Tremoranfälle, oder leiden Sie noch immer darunter?«
     »Sie verschwanden. Danach ging ich zu einem anderen Arzt. Es stellte sich heraus, daß ich eine Schilddrüsenüberfunktion hatte.«
     Dr. Gabor notierte etwas, dann legte er seinen Stift hin und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. »Erzählen Sie mir mehr über die Nacht, in der Sie Ihre Stimme verloren haben, Herr van Pels. Erinnern Sie sich an irgend etwas Bemerkenswertes?«
     Ich schüttelte den Kopf.
     »Was taten Sie an jenem Abend?«
     »Ich fuhr vom Büro nach Hause, ich spielte mit meinen Töchtern, meine Frau und ich aßen zu Abend, wir lasen die Zeitung und sahen fern, wir gingen zu Bett. Es war wie an jedem anderen Abend.«
     »Ist die sexuelle Seite Ihrer Ehe befriedigend?«
     »Absolut.«
     »Wie oft haben Sie Verkehr, einmal im Monat, einmal in der Woche oder öfter?«
     »Öfter«, flüsterte ich.
     »Auch an jenem Abend? In der Nacht, als Sie Ihre Stimme verloren?«
     Ich betrachtete die afrikanische Statue, die er mir zugekehrt hatte. Ich nickte.
     »Und hatten Sie einen befriedigenden Orgasmus? Keine Dysfunktion?«
     Ein Hauch von Ausschweifung wehte über seinen Schreibtisch.
     »Keine Dysfunktion«, murmelte ich.
     »Und was ist mit Ihrer Frau? Hatte sie auch einen Orgasmus?«
     Meine Frau, Doktor, geht Sie verdammt noch mal nichts an. Nicht die saugende Süße ihres Mundes oder die üppige Rundung ihres Hinterns, wie man so sagt, wenn sie etwa ein Pferd reitet, oder das seltsame Wimmern, das mich immer an die letzten Töne von Bunny Berigans Trompete erinnert, am Ende von »I Can't Get Started«. Sie spielte mir diesen Song an jenem Abend vor, als sie mich ausführte, um mein gebrochenes Herz zu heilen. Ich sehe sie noch immer vor mir, wie sie diese große, blinkende amerikanische Jukebox mit Münzen fütterte. Manchmal, wenn ihr jetzt dieser Ton entfährt, frage ich mich, ob sie in ihrer aufgeregten Jungfräulichkeit gewußt hatte, daß dies die Töne waren, die sie ausstoßen würde, und ob sie mir die Musik als Versprechen auf etwas Zukünftiges vorgespielt hatte. Das frage ich mich, Doktor, aber es geht Sie einen Dreck an.
     Ich nickte wieder und verbarg meine Hand, die sich zur Faust geballt hatte, hinterm Rücken.
     »Und danach? Gab es irgendwelche Unstimmigkeiten oder Anschuldigungen?«
     »Was immer mit meiner Stimme los ist«, flüsterte ich, »es hat nichts mit Sex zu tun.«
     »Ich versuche nur herauszufinden, was an jenem Abend passiert ist. Haben Sie sich unterhalten? Sind Sie eingeschlafen?«
     »Ich bin eingeschlafen.«
     »Und Ihre Frau?«
      Die Bürger von Calais schimmerten sanft im abgedämpften Licht. Die Statue mußte gut fünf Kilo wiegen. Der erhobene Arm von Pierre de Wissant könnte jemandem glatt das Auge ausstechen.
     »Sie hat gelesen. Sie liest immer, bevor sie einschläft.«
     »Stört Sie das?«
     »Ihr Lesen?«
     »Ihr Lesen, nachdem Sie sich geliebt haben?«
     »Warum sollte es das?«
     »Manche Leute könnten es als emotionale Vernachlässigung ansehen.«
     Sie nennen es emotionale Vernachlässigung, wenn man in heißen Laken liegt, die nach Sex und Süße und Seife riechen, mit zitternden Nerven, mit weich zugedeckten, träumenden Kindern im Nachbarzimmer? Vielleicht haben Sie den falschen Beruf gewählt, Doktor. Oder vielleicht haben Sie zu viel Zeit in Boulevardcafés verbracht.
     »Das macht mir nichts.«
     »Was hat Ihre Frau an jenem Abend gelesen?«
     Die Frage war absurd, aber man hat mir gesagt, er sei meine einzige Hoffnung. Ich versuchte, mir meine Frau vorzustellen, wie sie sich im Bett aufsetzte, das Buch vom Nachttisch nahm und sich in die Kissen zurücklehnte. Ich versuchte den Band zu sehen, den sie, auf dem blauen Satinüberzug der elektrischen Zudecke aufgestützt, hielt. Es war keines der dicken, abgegriffenen Paperbackbücher aus ihrer Collegezeit, die sie manchmal mit ins Bett brachte. Madame Bovary. Anna Karenina. Thackerays Buch über den Colonel. Das kannte ich sehr gut. Wir hatten es im zweiten Frühling unseres Untertauchens gelesen. Das Buch, das meine Frau an jenem Abend las, war neu, frisch vom Regal einer Buchhandlung oder direkt aus dem Buch-des-Monats-Club-Umschlag ausgepackt. Ich kniff die Augen zusammen, um den Hochglanzeinband zu fokussieren. Kühne schwarze Buchstaben. Ein Foto.
     »Sind Sie
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