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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
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in Ordnung?« fragte Gabor.
     »Was?«
     »Sie haben gerade nach der Lehne gegriffen, als würden Sie gleich fallen.«
     Ich sagte ihm, daß er sich irrte. Ich hatte nur meine Sitzposition etwas verändert.
     »Wir haben gerade darüber gesprochen, was Ihre Frau an jenem Abend, als Sie Ihre Stimme verloren, gelesen hat.«
     »Einfach ein Buch.«
     »Erinnern Sie sich nicht mehr, was für ein Buch es war?«
     »Spielt das eine Rolle?«
     Gabor lächelte zum ersten Mal. »Wahrscheinlich nicht. Ich war einfach neugierig, was für einen Geschmack sie hat.«
     »Sie liest alles. Aber mir ist nicht aufgefallen, was sie an jenem Abend gelesen hat.«

ZWEI

    Er empfand es als sinnlos, sich in grüblerischer Trauer zu verzehren. Man mußte weiterleben, weiterbauen.

    Otto Frank, Brief an seinen Bruder,
    16. März 1946, zitiert in Otto Franks Geheimnis. Der Vater von Anne Frank und sein verborgenes Leben von Carol Ann Lee

    Ich verließ Dr. Gabors Haus, ein niedriges Bürogebäude aus Beton, und die Hitze schlug mir wie eine heiße Wand entgegen. Sie machte die Luft dick und den Parkplatzasphalt unter meinen Füßen weich. Ich ging zum Auto, zog meine Jacke aus und legte meine Krawatte ab, ließ aber die Ärmel meines Hemds zugeknöpft. Es war nicht so, daß ich mich schämte, ich sah einfach keinen Grund, sie zur Schau zu stellen.
     »Was ist das, Papa?« fragt meine älteste Tochter, ihre kleine Hand schwebt darüber, ängstlich, sie zu berühren, und doch gierig danach, den Finger darauf zu legen.
     »Nur etwas, das Papa bekommen hat, als er klein war«, sage ich, und die Antwort lenkt sie ab. Sie möchte mich nicht als Kind sehen, nicht kleiner, als ich bin. Sie braucht alles an Größe und Umfang und Substanz, was sie bekommen kann. Sie ist nicht dumm, meine Tochter.
     Ich hatte die Fenster offengelassen, aber im Auto war es erstickend heiß. Der Ledersitz brannte durch das Hemd hindurch. Das Lenkrad klebte an den Händen. Nur der Schlüssel, den ich während der Zeit in Dr. Gabors Praxis in meiner Tasche gehabt hatte, war nicht zu heiß zum Anfassen. Ich drehte ihn im Zündschloß und griff nach dem Radioknopf. Das Metall brannte an meinen Fingern. Sogar die Stimme des Sprechers war überhitzt; ich war allerdings noch die BBCSprecher gewohnt. Sie waren nicht zu schlagen gewesen. Die Amerikaner waren einfach selbstgefällig. Fünfhundert USFlugzeuge hatten Nordkorea bombardiert. Das Repräsentantenhaus hatte das Einwanderungsgesetz verabschiedet oder besser das Antieinwanderungsgesetz, gegen Präsident Trumans Veto. Sechsunddreißig Grad Hitze und keine Erleichterung in Sicht.
     Ich reihte mich in den Verkehrsstrom ein, der die Route One entlangkroch. Gab es irgend etwas Bemerkenswertes an jenem Abend, hatte der Doktor gefragt. Alles, Doktor, alles an jenem Abend und dem davor und dem danach und heute. Die Scherben des Sonnenlichts, die von der Motorhaube splittern wie Diamanten. Die Schilder, die in der Hitze flimmern und mir 26 CENTS FÜR EINE GALLONE und ZWEI-FÜR-EINS und PARKPLATZ AUF DEM HOF versprechen. Der mürrische Fahrer, der kopflos vor mir herumfährt, und der andere, der mich mit einer Geste von noblesse oblige vorbeiwinkt. Die aufragenden schattigen Bäume entlang der sonnengesprenkelten Zufahrtsstraße und der berauschende Duft frisch gemähten Grases, als ich mich meinem Zuhause nähere. Alles ist bemerkenswert, Doktor, und wie seltsam, daß es mir, nach allem, noch immer das Herz brechen kann. Aber vielleicht ist das der springende Punkt.
     Ich bog in die Indian Hills Road ein. Mein linker Fuß senkte sich auf die Bremse, während sich mein rechter vom Gas hob. Diese seltsame Angewohnheit war mir lange nicht bewußt, bis meine Frau mich darauf hingewiesen hatte. Damals war sie noch nicht meine Frau.
     »Du fährst mit beiden Füßen«, sagte sie mit der gleichen Faszination, mit der sie die Zahl der Sprachen nannte, die ich sprach, oder der Bücher, die ich gelesen hatte, bevor ich aufhörte zu lesen.
     »Was meinst du damit?«
     »Die meisten Leute bewegen einen Fuß vom Gaspedal zur Bremse. Du benutzt für jedes Pedal einen Fuß.« Sie sang, Jimmy Durante parodierend: »Hast du jemals das Gefühl, daß du gehen willst, und fühlst dabei, daß du bleiben willst?« Sie hatte sich auch immer gewundert, wie vertraut ich mit amerikanischen Entertainern und Kinostars war.
     »Es ist ein Ausdruck von Ambivalenz«, sagte sie mit Blick auf meine Füße.
     »Es ist meine Art zu fahren«, sagte
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