Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte
Autoren: Ellen Feldmann
Vom Netzwerk:
ich, obwohl ich eine Zeitlang versuchte, nur einen Fuß zu benutzen, so wie es, ihrer Aussage nach, alle anderen taten. Doch nach ein, zwei Wochen kehrte ich zu meiner alten Gewohnheit zurück. Ich fühlte mich sicherer damit.
     Ich fuhr nun mit beiden Füßen und mit beiden Händen am Lenkrad. Die Tachoanzeige pendelte zwischen fünfzig und fünfundsechzig Stundenkilometern. Mein Partner Harry sagt, wenn er jemals einen Gebrauchtwagen kauft, was Gott verhindern möge, würde er ihn von mir kaufen. Entweder von mir oder von einer kleinen alten Dame, die nur sonntags mit dem Auto zur Kirche fährt, fügte er hinzu, um mir zu zeigen, daß er sich lustig machte. Harry kann sich lustig machen, wie er mag, aber er versteht nicht, wie leicht ein Unfall passiert. Sogar hier. Besonders hier, wo Sprinkler Regenbögen über frisch gesäte Rasenflächen sprühen und blank geputzte Fenster das Leben der Bewohner zu einem offenen Buch machen und wo es Kinderfahrräder gibt, nicht solche schwarzen, die durch die Straßen Amsterdams schwärmten, bis die Deutschen sie konfiszierten, sondern bunte Räder in den Farben von Juwelen, die meine Schwiegermutter als Zeichen der Liebe von meinem Schwiegervater einfordert; wie viele Geschäftsleute hat er während des Kriegs gut verdient. Die Kinder auf den Fahrrädern sind meine größte Angst. Ich stelle mir vor, wie sie auf die gewachste Kühlerhaube meines Buicks knallen. Ich sehe, wie sie unter die Weißwandreifen geraten.
     Ich bog von der Algonquin in die Iroquois ab. Ein instinktives Abbiegen war das, ich könnte meinen Heimweg mit geschlossenen Augen finden, wäre da nicht diese Angst, ein Kind zu überfahren. Manchmal, wenn ich hier die Straßen entlangkomme, stelle ich mir vor, wie alles von oben aussieht. Ich schaue hinunter und sehe die Bauernhöfe und Cape Cods und Colonials an den kurvigen Straßen, durch Zufahrtswege mit der Autobahn verbunden, als Anhängsel der Stadt im Kreis von Middlesex im Staat New Jersey in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und ich sehe mich selbst, beide Füße auf den Pedalen, beide Hände am Lenkrad, auf diesen Straßen fahren. Ich sehe, wie Dr. Gabor es nicht konnte, als er all diese pedantischen Fragen über Sex stellte, den Wald vor Bäumen.
     Als ich nach rechts in die Seminole einbog, spürte ich das vertraute Aufblitzen der Angst, daß das Haus nicht mehr da wäre, sondern nur noch rauchende Ruinen. Oder noch schlimmer, daß sich an seiner Stelle eine friedliche Fläche mit Gras und Bäumen ausbreitete. Ein Haus hatte es nie gegeben. Ich hatte das nur geträumt.
     Und im nächsten Moment würde ich aufwachen und mich wieder in einer anderen Welt befinden. Aber das Haus war da. Ich atmete erleichtert aus und bog in unsere Einfahrt ein.
     Ein Fleck aus Blau und Weiß tauchte in meinem Blickwinkel auf. Mein linker Fuß drückte auf die Bremse. Ich machte keine Notbremsung, ich fuhr nur ein wenig langsamer. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, was meinen Blick gefangen hatte. Scottie Wiener mit sauber geschrubbtem Gesicht, die nassen Haare an den Kopf geklebt und in einem blau-weiß gestreiften Pyjama, der ihm ein paar Nummern zu groß war, stand auf dem Nachbarhof. Er war ein ganzes Stück von der Einfahrt entfernt. Es wäre sehr schwierig gewesen, ihn umzufahren.
     Ich winkte, und Scottie winkte zurück. »Hi, Mister van Peth«, rief er durch seine Zahnlücke. Die Nachbarkinder mögen mich. Ich bin geduldig mit ihnen. Ich werde nicht laut, wie manche ihrer Väter es tun. Ich verliere nie die Beherrschung. Zumindest haben sie das noch nicht erlebt. Vor ein paar Wochen habe ich mir von Scottie helfen lassen, die Schaukel im Garten hinter unserem Haus aufzustellen.
     Ich wandte mich von dem knochigen, zahnlückigen Jungen ab, der im übergroßen gestreiften Pyjama seines Bruders zu einem alten Mann geschrumpft war, und fuhr das Auto in die Garage, vorsichtig an dem Kombi vorbei, den meine Frau ganz an der Seite abgestellt hatte, um Platz für mich zu lassen. Der Rasenmäher, die Rechen und Schaufeln und andere Geräte waren, um das Chaos in Schach zu halten, ordentlich verstaut oder aufgehängt.
     Ich hievte mich vom Vordersitz, griff hinten nach Krawatte und Jackett und schlängelte mich zwischen den Autos hindurch zur Seitentür. Zehn Tage anhaltender Hitze hatten das Holz verzogen, ich mußte mit meiner Schulter dagegendrücken, um die Tür aufzubekommen. Für ein Fertighaus war das Haus gut gebaut, und ich hatte alles mögliche noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher