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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
Autoren: Helge Timmerberg
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entfernt, aber es wurde wirklich kurvig, und an den Seiten ging es wirklich schroff bergab, und was mich den Wölfen so nahe brachte, war ein Fehler, den ich machte: Ich begann mit den mitreisenden Moslems ein Gespräch über Mohammed, den Propheten. Eigentlich begannen sie damit. Sie wollten wissen, was ich über ihn denke, und ich hatte gerade ein enorm psychedelisches Jahr hinter mir, in dem ich unter Einfluß von LSD Hermann Hesse gelesen hatte, und antwortete in einem Englisch, das dem ihren nicht so unverwandt war: «Mohammed, holy man. But Jesus same, same. And same, same auch Buddha. We all same, same. Understand?»
    Sie verstanden das zwar (auch inhaltlich), waren aber anderer Meinung und behielten aus eigener Kraft heraus recht. Wir waren nicht alle eins und nicht alle gleich, wir waren uns nicht mal ähnlich; ich zum Beispiel hätte niemals versucht, die Diskussion mit einem Rausschmiß aus dem Minibus zu beenden. Die Kurden schon. Sie rissen die Schiebetür auf, und acht Hände packten an, um einen Ungläubigen loszuwerden. Zehn Hände wollten mich zurückziehen. Zwei davon gehörten einer minderjährigen Architektentochter aus Hamm/Westfalen, zwei weitere einem englischen Freund aus Bath, außerdem hielten mich noch ein starker Holländer und zwei Amerikaner fest, und ich selbst hielt mich natürlich auch fest, an allem, was ich zu greifen bekam. Es sind Bücher darüber geschrieben worden, Essays, Dissertationen (Kulturwissenschaft, Theologie, Soziologie), aber alles Geschriebene würde zur Not in einen einzigen und nicht mal langen Satz passen, der die siebziger Jahre erklärt und hundertprozentig stimmt: Sechs Hippies waren schwächer als vier Mohammedaner.
    Noch bevor ich glauben konnte, was hier geschah, lag ich im Schnee, und als ich wieder aufgestanden war, konnte ich es noch immer nicht glauben und schrie den verblassenden Rücklichtern des Minibusses hinterher, bis sie gänzlich in der Nacht verschwanden. Das fiel ihnen nicht schwer. Frau Holles kurdische Verwandte schüttete Lawinen von Schneeflöckchen auf uns herunter, und jedes einzelne Weißröckchen wurde vom Wind zu einem Geschoß geformt. Sagte ich «auf uns herunter»? Wer ist noch in dieser Geschichte, die Freund und Feind im Minibus gerade verläßt?
    Wolfsgeheul beantwortet die Frage.
    Adrenalin ist an und für sich nicht bösartig, sondern ein befreundetes Hormon. Es macht wach und putzmunter, denn es rast wie Rasierklingen durchs Blut und tut den Nerven gut, tausendmal besser als Kokain. Adrenalin ist der letzte Joker des Lebens. Und ist dieses auch ein durchgehend verschlafenes gewesen, egal, im Angesicht des Todes verschafft es Mega-Aufmerksamkeit für die Situation. Es gibt Adrenalin-Klassiker wie den Schatten eines Schlachtermessers hinter dem transparenten Duschvorhang, oder wenn man durch ein Flugzeugfenster schaut, und die Turbine brennt. Adrenalin auch, wenn im Hals der Apfel klemmt oder ein hungriger Wolf seine Lieder singt. Ein hungriger Wolf? Mir schien, es waren mehrere.
    In einer unheilschwangeren Situation gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Bei zwanzig Grad minus kein Problem. Was wußte ich über den Umgang mit Wölfen außerhalb des Zoos? Bitte nicht füttern! Was wußte ich noch? Daß ich mir durchaus komfortablere Möglichkeiten vorstellen konnte zu sterben. In der Palette der gewaltsamen Tode zählte ich den hier anstehenden zur Spitzengruppe des Grauens, in der die Folter der Champion ist. Wölfe jagen in Rudeln, ein Dutzend Tiere oder mehr fallen über dich her, und wenn du Glück hast, zerfetzen sie dir sofort die Kehle. Hast du aber Pech, kann’s passieren, daß dir ein Wolf die Hoden abreißt, während dir ein anderer das Gesicht zerfleischt und du so lange schreist, bis du keine Zunge mehr hast.
     
    DIE FÜNF BANGEN FRAGEN:
Wie schnell sind Wölfe, wenn Hunger und Blutdurst sie treiben? (Auf jeden Fall schneller als satte Schäferhunde.)
Über welche Distanz können sie mich riechen? (Menschen haben zehn Millionen Riechzellen, Wölfe fünfhundert Millionen.)
Wie weit sind sie von mir entfernt? (Ich bin schwerhörig. Daß ich sie überhaupt gehört habe und immer wieder höre, beweist, daß sie praktisch hinter mir stehen.)
Wieviel Zeit bleibt mir?
Zeit, um was zu tun?
     
    Wölfe fürchten sich vor Feuer. Das weiß ich von Karl May. Gibt’s hier Holz? Ja. Und wie zündet man nasses Holz an? Ein brasilianischer Goldsucher im Amazonas hat mir gezeigt, wie es geht. Nasses Holz muß geschält werden.
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