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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
Autoren: Helge Timmerberg
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zu eliminieren. Er kann auch die nächsten dreißig Jahre daran arbeiten, es wird nicht funktionieren. Weil die Eifersucht ein paar Millionen Jahre älter ist als er. Wir MÜSSEN uns verlieben, und wenn es schiefläuft, MÜSSEN wir Liebeskummer schieben, das ist das Diktat unserer Natur. Wir MÜSSEN leiden, wenn wir lieben. Außerdem MUSS ich Steuern zahlen, zum Zahnarzt gehen, Präservative akzeptieren und im Kino die Klappe halten. Also von welcher Freiheit rede ich hier?
    Es gibt große und kleine Fallen. Und es gibt Fallen, die ein Zeitmechanismus öffnet. Doch wenn ich nach, sagen wir, dreißig Jahren feststelle, daß sich da noch nichts getan hat, MUSS ich selber was für meine Freiheit tun. Wieder ein MUSS. Aber der Zweck heiligt die Mittel. Und es ist ein großes Unternehmen. Es hat Format. Der Gegner ist Goliath. Mehr verrate ich nicht, zu privat, aber ich denke, jeder hat seinen eigenen Goliath parat, seinen großen Tyrannen, seinen Spielverderber, sein Schicksal, die dunkle Seite seines Ichs. Jedes Ich hat zwei Seiten. Und die einzige Freiheit, die ich habe, ist, mich zu entscheiden, welche Seite ich fördern will und welche ich am ausgestreckten Arm verhungern lasse. Spricht man so über Goliath, wenn man David ist? Wird es gehen, sich der Abhängigkeit Stück für Stück, Tag für Tag, fast unmerklich zu entziehen? Oder braucht es den offenen Kampf? High Noon. Victoriao muerte. Sieg oder Tod. Braucht es die Revolution?
    Eigentlich braucht es nur ein Wort. Es heißt «Nein». Das «Nein» zum Fassonschnitt zum Beispiel hat mir einen Dauerkrieg mit meinem Vater eingebracht, als ich in der Pubertät war. Der Krieg weitete sich in Windeseile aus. Verwandte beteiligten sich, Wirte warfen mich raus, Zugschaffner, Busfahrer, Polizisten, eigentlich jeder, der Mitte der sechziger Jahre älter als dreißig gewesen ist, fühlte sich von meinen langen Haaren bis aufs Blut provoziert. Kann mir einer erklären, was das sollte? War das geisteskrank? Ein kollektiver Wahn? Oder stand tatsächlich irgendwo in der Geschichte der Deutschen geschrieben, daß nur Frauen lange Haare tragen? Meines Wissens stand da geradezu Gegenteiliges: Bei den Germanen galten lange Haare als Zeichen des freien Mannes. Nur den Sklaven wurden sie geschnitten. Der Fassonschnitt war undeutsch. Warum kapierte Deutschland das nicht?
    Ein weiteres beherztes Nein galt dem Krawattenzwang, der Wehrpflicht, dem deutschen Schlager, dem deutschen Wetter und dem Objektivitätsanspruch im Journalismus. Nein zur Lüge, nein zur Langeweile, nein zu drogenfreien Redaktionen. Die Freiheit der siebziger Jahre war Rausch statt Arbeit, die Freiheit der Achtziger war Rausch trotz Arbeit, die Freiheit der Neunziger sah folgendermaßen für mich aus: wohnen in Marrakesch, schreiben für den deutschen Boulevard. Einmal die Woche und so gut bezahlt, daß mir die Arbeit wie das Putzen von Aladins Wunderlampe vorkam. Vom Honorar des ersten Arbeitstages konnte ich die Jahresmiete für mein Haus bezahlen, vom Honorar des zweiten Arbeitstages richtete ich den Riad komplett ein, und wäre ich nicht irgendwann nach Kuba umgezogen, hätte ich wahrscheinlich damit angefangen, mir Kamele zu kaufen, weil ich Karawanen so mag. Leben in Havanna, schreiben für den deutschen Boulevard. Hier brachte ein Tag Arbeit das Geld für sechs Partynächte ein. Mußte er auch. Die Karawane der Salsa-Tänzerinnen wollte mit Rum versorgt sein. Ist das frei? Nein, das ist reich. Das ist Sucht. Das ist die Angst, keinen mehr hochzukriegen, die Angst, nicht geliebt zu werden, die Angst vor der Depression durch Übersättigung. Ich selbst habe es nie zu wirklichem Reichtum gebracht. Aber ich weiß es von Freunden. Die Freiheit der Millionäre ist brutal. Und die Freiheit der Milliardäre ist tausendmal brutaler. Wer sich alle Träume kaufen kann, hat bald keine mehr. Und was ist eigentlich mit der Freiheit von der Eitelkeit? Der Freiheit von der Wollust? Der Freiheit vom Neid? Ist die Freiheit von den Todsünden sekundär? Das in etwa sind meine Fragen.
    Und auch die: Muß nicht, was einmal befreit wurde, immer wieder befreit werden? Hat es in meinem Leben nicht immer irgendeinen Goliath gegeben? Bin ich nicht von Falle zu Falle geflohen? Ewiges Befreien. Von ewiger Abhängigkeit. Wenn das nie aufhört, warum lasse ich es dann nicht sein? Den kräftezehrenden Kampf gegen Drogen und die Grenzüberschreitungen der Liebe. Aber auch den Kampf gegen die Beziehungsunfähigkeit, die Veranlagungen, die
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