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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier
Autoren: Ana Veloso
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als goldglühender Ball aus dem Horizont. Ein sattes Grün, über dem dichter Frühnebel waberte, überzog die Landschaft, die recht flach war. Nur sehr viel weiter landeinwärts ließen sich höhere Hügel ausmachen. Die Farbe des Himmels ging von Violett in Mittelblau über. Sie fuhren direkt auf das Fort zu, das sich am nördlichen Ufer des Mandovi-Deltas über den Fluss und das Meer erhob, bevor sie schließlich in die Flussmündung einbogen – und jegliches Gefühl von Einsamkeit, das sie auf hoher See nur zu gut kennengelernt hatten, wie weggeblasen war: Man erkannte bereits die Masten der großen Segelschiffe, die vor Govepuri, der Hauptstadt der Kolonie, vor Anker lagen.
    Ein kleines Boot, einer Piroge nicht unähnlich, kam ihnen entgegen, und eine Fähre überquerte gleich vor ihnen den Fluss von Süd nach Nord. Sie transportierte nur wenige Passagiere, vorwiegend Inder. Miguels Puls beschleunigte sich. Die Eingeborenen leibhaftig zu sehen war doch etwas ganz anderes, als sie sich anhand von Abbildungen oder Erzählungen vorzustellen. Sie waren nicht nah genug, als dass er ihre Gesichter hätte studieren können, und doch wirkten sie auf ihn wunderschön mit ihrem schwarzen, geölten Haar und der dunklen Haut, auf der ihre sonderbaren bunten Gewänder zu leuchten schienen.
    Ein kleines Ruderboot kam direkt auf sie zu. »Der Lotse«, klärte Carlos Alberto seinen Freund auf, als ob es dessen bedurft hätte. Miguel war in Lissabon aufgewachsen und hatte von Kindesbeinen an die Ankunft von Schiffen aus Übersee verfolgt. Das Ruderboot machte am Rumpf der Galeone fest. Eine Strickleiter wurde herabgelassen, und ein kleines, zähes Männlein unbestimmbaren Alters kletterte hurtig herauf. Er war von mittelbrauner Hautfarbe, sicher einer der vielen Mischlinge, die das sittenlose Treiben, für das Goa berühmt war, hervorgebracht hatte. Der Lotse grüßte nickend und verschwand im Steuerhaus. Miguel wandte sich wieder der Szenerie zu.
    Rechter Hand säumte ein breiter Streifen weißen Sandes das Ufer, linker Hand lag eine herrliche Kirche, die in der Morgensonne in gleißendem Weiß erstrahlte. Carlos Alberto und Miguel bekreuzigten sich gleichzeitig und schmunzelten darüber. Trotz ihres manchmal gottlosen Geredes waren sich beide stillschweigend einig, dass sie ihrem Schöpfer von Herzen dankbar sein mussten. Es konnten nicht allein das Geschick des Kapitäns, günstige Winde oder die robuste Bauweise der Galeone für ihre gesunde Ankunft verantwortlich sein. Gott hatte seine schützende Hand über sie gehalten.
    Die Ellbogen auf der Reling abgestützt und in gebeugter Haltung bestaunten die beiden jungen Männer das Panorama und warteten ungeduldig darauf, endlich die Stadt zu erreichen, die rund sieben Meilen landeinwärts am Fluss lag – die Stadt, die als das »Rom des Ostens« galt, die von dem großen Dichter Camões besungen worden war und in einem Atemzug mit Lissabon genannt wurde, wenn es um die prachtvollsten Städte der Erde ging.
    Ohne seinen Freund dabei anzusehen, fragte Miguel: »Was ist heute für ein Tag?«
    »Sonntag.«
    »Und welches Datum?«
    »Heute ist der 5 . Mai.« Carlos Alberto beäugte Miguel skeptisch von der Seite und ergänzte: »Im Jahre des Herrn 1632 , falls dir auch das bereits entfallen sein sollte.«
    »Auf den Tag genau zehn Monate, Carlos Alberto. Ist das zu fassen? Fast ein Jahr unseres Lebens haben wir auf diesem Schiff vergeudet, anstatt das zu tun, was andere Männer unseres Alters zu tun pflegen.«
    »Nun, getrunken und gespielt haben wir doch reichlich«, witzelte Carlos Alberto. »Nur mit der Hurerei war es nicht so weit her.«
    Miguel starrte versonnen in die Wolkengebilde, die sich rasend schnell zu immer skurrileren Gebilden auftürmten und deren Bäuche von der aufgehenden Sonne in ein kräftiges Orange getaucht wurden. Bald würden sie die Sonne verdecken. Und in Kürze würde aus ihnen, wenn sie in derselben Geschwindigkeit anwuchsen, ein ergiebiger Regen fallen. Das fing ja gut an: An einem Sonntag, noch dazu in der sich ankündigenden Monsunzeit, in der Kolonie einzutreffen war nicht unbedingt ein Glücksfall. Die Leute wären in der Kirche oder zu Hause, die Schänken leer. Sein Gepäck würde aufgeweicht in der Herberge ankommen, und er selber würde wahrscheinlich knöcheltief im Schlamm versinken. Unsinn!, schalt er sich selbst. Wie konnte er allen Ernstes hier stehen und sich Gedanken über das Wetter machen? Das größte Abenteuer seines Lebens
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