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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier
Autoren: Ana Veloso
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versprechen, dass, wenn mir etwas zustoßen sollte, du dich gut um deinen Bruder kümmern wirst. Wenn …«
    »Aber …«
    »Scht. Hör nur genau zu. Wenn fremde Männer mich abholen kommen, dann lauf fort, so schnell du kannst. Verliere nie Vijay aus den Augen. Begebt euch zu Onkel Manesh, und passt auf, dass niemand euch folgt. Wenn dir im Haus von Onkel Manesh irgendetwas merkwürdig vorkommt, anders als sonst, dann flieht. Eure
ayah
wird euch immer begleiten, aber sie ist nicht mehr die Jüngste. Wenn ihr sie zurücklassen müsst, um euer eigenes Leben zu retten, dann tut es.«
    Bhavani waren Tränen in die Augen getreten. Was hatte das zu bedeuten? Was waren das für furchterregende Worte? Warum sollte sie aus ihrem eigenen Haus fortlaufen sollen, noch dazu ohne ihren
abba?
Sie verstand die Welt nicht mehr.
    »Es tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe. Und für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Aber die Lage ist mehr als kritisch. Wenn wir das alles überstanden haben, was wir ohne jeden Zweifel tun werden, meine süße Bhavani-beti, dann erkläre ich dir, was es damit auf sich hatte. Betrachte die ganze Angelegenheit vorerst als ein Abenteuer. Bist du nicht im Versteckenspielen auch immer die Gewinnerin? Na also. Mach es genauso wie bei dem Spiel: Sei schnell und raffiniert. Ja?«
    Bhavani nickte. Sie schluckte schwer und gab sich jede Mühe, die heraufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Ein Abenteuer? Ein Spiel? Das Ganze erschien ihr eher wie eine der Gruselgeschichten, die sich das Küchengesinde abends am Feuer erzählte und denen sie manchmal heimlich gelauscht hatte.
    »Und wenn du die Männer abgehängt hast, die euch verfolgen, dann geh zum Tempel der Parvati und bitte die Göttin, dir beizustehen. Versprichst du mir das?«
    Erneut nickte Bhavani. Sie zitterte vor Furcht. Zugleich mischte sich auch ein Gefühl von Stolz darunter. So hatte sie ihren
abba
noch nie erlebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte er sie nicht wie ein kleines, verwöhntes Mädchen behandelt, sondern mit ihr gesprochen wie mit einer Frau. Natürlich würde sie ihm das alles versprechen. Sie war fast elf Jahre alt, so gut wie erwachsen also – ihre Cousine hatte immerhin mit dreizehn geheiratet. Vijay war acht, benahm sich aber meistens wie ein Kleinkind. Auch wenn er als einziger männlicher Nachkomme mehr Rechte hatte als sie, hatte ihr Vater doch ihr, Bhavani, die Verantwortung übertragen, und sie war sicher, dass sie dieser Aufgabe gewachsen war.
    Ihr Vater lächelte sie an. »Ich wusste doch, was für ein tapferes großes Mädchen du bist. Und weil du schon alt genug für …«
    Ein lautes Klirren ließ ihn innehalten. Es hatte geklungen wie das Aufschlagen von Messing auf Keramik, ein Geräusch, das Bhavani nur allzu vertraut war. Vijay hatte schon häufig die mit Wasser und schwimmenden Blüten gefüllte Messingschale im Eingang von ihrem Sockel gestoßen. Aber das damit einhergehende Triumphgeheul ihres Bruders blieb diesmal aus, desgleichen das anschließende leise Umherhuschen und Aufräumen der Bediensteten.
    Dann passierte plötzlich alles auf einmal. Ein großer, dunkelhäutiger und grimmig dreinschauender Mann mit Turban stürmte in das Arbeitszimmer und schwang dabei einen Säbel. Ihm folgten weitere Männer, allesamt in kampfbereiter Haltung. In der Miene von Bhavanis Vater zeichnete sich Entsetzen ab. Er drängte Bhavani zum Fenster und entriss ihr die Puppe, um seine Tochter hinauszuheben und an beiden Armen auf den Sockel hinabzulassen. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung in den Garten.
    »Nein,
abba!
Ich …«
    »Lauf! Schnell!« Er drückte ihr einen kleinen Beutel in die Hand, bevor er ihr einen Schubs gab und sich abwendete. Bhavani hörte die Eindringlinge brüllen und toben. Dem Klang nach zu urteilen, zerschlugen sie die gesamte Einrichtung. Sie hörte ihren Vater ein paar Worte in ruhigem Ton sagen, dann vernahm sie nur noch ein Röcheln. Sie klammerte sich am Gesims fest und zog sich hinauf, um einen Blick in den Raum zu werfen. Doch in diesem Augenblick erschien einer der Angreifer im Fenster.
    Bhavani sprang und rannte davon.
     
    Die Abenddämmerung setzte bereits ein, als Bhavani sich aus ihrem Versteck herauswagte. Ihren Bruder, der noch verstörter war als sie selbst, ließ sie vorübergehend in dem hohlen Baum zurück, in dem sie, als sie noch kleiner waren, oft gespielt hatten und der jetzt viel zu wenig Raum für sie beide bot. Sie schlich sich vorsichtig zum
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