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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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mehr in Yunus’ Leben. Den ganzen Tag sammelte er Regenwürmer auf dem Rasen hinter dem Haus. Ohne zu wissen warum, ganz so, als wäre das seine neue Aufgabe im Leben, fing er die kleinen Tiere, die sich dicht unter dem Boden wanden, und stopfte sie in eine mitgebrachte Cola-Flasche. Manchmal sammelte er an einem Tag eine halbe Flasche Regenwürmer. Nach drei oder vier Tagen hatte er meistens eine ganze gefüllt und stellte sie zu den anderen unters Bett. In den Flaschen regten sich die Tiere manchmal einen halben, manchmal einen ganzen Tag, krochen wie kleine Nudelteilchen über- und untereinander und irrten in unendlichen Zyklen herum. Yunus betrachtete sie und spürte eine seltsame Entspannung. Dann wurden sie langsamer … die schwächeren gaben auf und die stärkeren versuchten, über die leblosen Körper der anderen oder unter ihnen herauszukriechen, was ihnen manchmal gelang und manchmal nicht, woraufhin sie nach einigen hoffnungslosen Vorstößen in Regungslosigkeit versanken. Am liebsten sah Yunus zu, wie Güldane tanzte, und am zweitliebsten, wie die Regenwürmer um ihr Leben rangen.

    Es war ein unangenehmer Tag in Istanbul, es regnete. Es war die Zeit der Narzissen. Der Himmel war grau und trüb, der Boden matschig. Nicht einmal das köstliche Aroma der Blumen konnte Güldanes Stimmung heben. Wenige Schritte von ihrem Arbeitsplatz entfernt hatte man mit dem Bau eines großen Einkaufszentrums begonnen und ein riesenhaftes Loch zum Mittelpunkt der Erde hin gegraben. Die Grube war umzäunt. Es war unmöglich zu sehen, was dahinter geschah. Das Dumme an der Geschichte war, dass seit der Aushebung dieser Grube der ganze Schlamm, den die Erdkugel ausspuckte, jedem Passanten an den Schuhen hängenblieb. Hohe Absätze, Glanzlederstiefel und die Reifen der Luxuskarren wurden von so viel Schlamm umrandet, als ob sie Güldanes Viertel durchkreuzt hätten.
    Güldane nahm ein paar Bündel Narzissen und glitt in den Fluss des Verkehrs hinein. Unerwarteterweise liefen die Geschäfte gut. Güldane war wählerisch, sie steuerte nicht jeden Wagen an, und die Insassen der Autos, die sie sich vornahm, kauften ihr unfehlbar einen Bund ab. Trotzdem wollte sich ihre Laune nicht bessern.
    Es war knapp vor Einbruch der Dunkelheit, da tauchte an der Straßenecke ein schwarzer Jeep auf. Er näherte sich. Für einen Moment stand Güldane Auge in Auge dem Fahrer gegenüber. Ein Mann mit tiefen, schwarzen Augen, einem leicht hervorstechenden Kinn, einem Schnauzbart und eigenartigem Blick. Die Ampel schaltete auf Rot. Die Autos blieben stehen. Auch der Jeep hielt. Während der Fahrer das Fenster herunterließ, trommelte Güldanes Herz wie das Tamburin von Yunus. Sie schluckte und brachte diesen Trommelwirbel zum Schweigen. Der Fahrer sah sie an.
    »Komm her«, sagte er.
    Güldane überlegte keine Sekunde lang, ob sie zu ihm gehen wollte; noch vor ihren Füßen eilte ihre Seele zu diesem Mann, und sie begann zu feilschen. Es war eigenartig; ihr war, als wäre sie in eine Welt hineinkatapultiert worden, in der sie noch nie gelebt hatte. Zum einen wünschte sie, bis in alle Ewigkeit in diesem Augenblick, vor diesem Mann verharren zu können, und brannte darauf, sein und ihr eigenes Geheimnis zu lüften, das Geheimnis dieses Augenblicks. Doch zum anderen spürte sie, wie die Zeit nur so dahinraste, und das schmerzte. Sie wurde unruhig. In dieser Verwirrung merkte sie nicht einmal, wie sie verhandelte und welchen Preis sie akzeptierte. Sie nahm nur wahr, dass der Mann »Abgemacht!« sagte und ihr seine Hand hinstreckte. Sie schlug ein, und als er fest ihre Hand nahm, fühlte Güldane, wie sie sich in seiner großen Pranke verlor. Dann fuhren die Autos an. Der Fahrer drückte ebenfalls aufs Gaspedal, als wäre Güldane gar nicht da und er nicht derselbe Mann, der noch eben mit ihr gefeilscht hatte. Güldane blieb verdutzt zurück und schaute dem Wagen hinterher. Auf einmal bremste der Jeep wieder ab. Ein muskulöser, starker Arm schwang sich aus dem Fenster und winkte Güldane zu sich. Sie zögerte für einen Augenblick, dachte aber nicht lange nach und lief zu ihm. Als sie gerade an dem Auto angekommen war, fuhr er wieder los. Dann blieb er wieder stehen. Güldane wurde wieder herbestellt. Und sie ging wieder hin.
    »Was bleibst du immer wieder stehen und fährst wieder los, hast du denn kein Benehmen?«, schimpfte sie.
    »Wir spielen doch ein wenig, ist das schlimm?«, entgegnete der Mann. Dann fing er wieder zu feilschen an.
    »Aber«,
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