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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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war es noch nicht einmal sieben. Der Tag war gerade angebrochen, die Menschen kamen vereinzelt aus ihren Häusern. Zu dieser Stunde war der Verkehr noch nicht dicht. Güldane trug ihren Korb zu dem Versteck, ließ die Blumen dort liegen, stellte sich an den Straßenrand und nahm das ganze Treiben auf der Straße in Augenschein. Wann die Ampel auf Grün und wann sie auf Rot schaltete, wie die Autos bremsten und anfuhren, wie sie sich einander näherten und voneinander entfernten, wo Lücken entstanden, in die sie flüchten könnte, wann ein Wagen, der am Anfang der Straße war, am anderen Ende erschien, das alles meißelte sie sich einzeln ins Gedächtnis.
    Als sie sich davon überzeugt hatte, genug erfahren zu haben, holte sie ein paar Bündel aus dem Versteck und huschte zwischen die Autos. Jetzt stand sie nicht mehr so nah an den Ampeln, und weil der Verkehr bis zur Kreuzung ohnehin zäh floss, hatte sie mehr Zeit, bei einem Fahrer zu bleiben und ihre Blumen zu verkaufen. Sie händigte die Blumen auf keinen Fall aus, bevor sie das Geld bekam. Sie näherte sich den Blechmonstern nicht allzu sehr und schützte sich somit vor den Seitenspiegeln. Sie bewegte sich nicht hastig und unternahm keine panischen Fluchtversuche auf den Gehsteig, sondern trippelte in die Lücken, die immer wieder entstanden, mit der Leichtigkeit einer Tänzerin.
    Die erste Woche verlief zwar nicht ganz reibungslos, aber als sie um war, hatte Güldane ihren Job einwandfrei gelernt. Sie spürte den Rhythmus der Straße in sich selbst und wanderte so mühelos zwischen den Autos, als würde sie um die Klänge kreisen, die Yunus’ Tamburin ausströmte.
    Nachdem sie die physikalische Dimension der Arbeit in den Griff bekommen hatte, fing sie allmählich an, Verkaufstechniken zu entwickeln. Zum Beispiel suchte sie sich, wenn die Autos stehenblieben, nach Begutachtung ihrer Fahrer eines aus und lief entschlossen darauf zu. Sie sah ihrem Gegenüber tief und fest in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und immer, wenn es möglich war, hielt sie den Blickkontakt, bis sie das Geld bekam.
    Je nach Alter, Geschlecht und Aussehen dachte sie sich kleine, gewinnende Sätze aus. Jungen Männern sagte sie: »Ich habe schöne Rosen für schöne Damen. Du hast bestimmt eine schöne Dame, nicht wahr?«, Frauen im mittleren Alter sagte sie: »Dein Haus soll deinen Mann mit himmlischen Düften anlocken«, protzigen Geschäftsleuten sagte sie: »Pfeif auf deine Frau, kauf sie für die Andere« und denen mit Kindern sagte sie: »Das Kind soll einmal echte Rosen sehen, echte Rosen berühren.«
    Auch die Preise variierten. An Luxusschlitten verlangte sie viel Geld und von ungeschminkten Frauen wollte sie, warum auch immer, weniger haben. Doch unabhängig von dem Kunden eröffnete sie das Feilschen immer mit der doppelten Höhe des Preises, den sie akzeptieren würde. So fühlte sich der Käufer als Sieger, aber die eigentliche Siegerin war immer sie selbst.
    In kurzer Zeit hatte Güldane mit ihrem selbstsicheren Auftreten, ihrer flinken Erscheinung, ihrem glühenden Blick und ihrer scharfen Zunge viele Stammkunden unter denen gewonnen, deren obligatorische Route über diese Straße führte.
    Güldane war rundum zufrieden mit ihrem Leben. Safiye wiederum war mit Güldane zufrieden und Cevdet in seiner Zelle mit Safiye. Denn allen wurde Geld auf die Hand gelegt. Der Einzige, dem das Ganze nicht gefiel, war Yunus. Seinem Tamburin entlockte er tausendundeinen Klang, führte alle Kunststücke vor, die er kannte, schmückte sie aus, aber Güldane schenkte ihm keine Beachtung und tanzte nicht. Jetzt war sie in ihre Blumen vernarrt. In Blumen, die sie verkaufte, in Blumen, die sie kaufte, und in den Ausschuss, den sie zu beklagen hatte … Sie hatte nur noch Augen für Blumen. Sie befestigte jeden Tag eine andere hinter ihrem Ohr, eine von der Sorte, die sie an jenem Tag verkaufen wollte, verließ im Morgengrauen das Haus, kam am Abend zurück, aß ein paar Häppchen und fiel ins Bett.
    Seit diese Geschichte mit den Blumen aufgekommen war, gab sie auch keine Vorstellungen mehr, und die Kerle des Viertels drohten zu zerplatzen. Sie fragten Yunus immer wieder nach seiner Schwester. Yunus schwieg. Wenn man mit ihr wenigstens darüber reden könnte! Auf eine vorsichtige Frage mit gedämpfter Stimme folgte eine Schelte; wurde er aufdringlicher, bekam er eins hinter die Ohren.
    Güldane hatte sich den Blumen gewidmet und ihren Bruder gänzlich vergessen. Jetzt gab es kein Licht
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