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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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gefiel ihr. Sie schloss die Augen. Sie berührte sich. Als sie die Augen wieder öffnete, war dort, wo sie sich anfasste, der schnauzbärtige Mann, den sie gestern im Jeep gesehen hatte. Voller Scham jagte sie ihn aus ihren Gedanken und fing an, sich ungestüm abzureiben.
    Nach dem Bad hatte sie Lust auf eine Zigarette. Wie sehr fehlte ihr jetzt der Zigarettengeruch ihres Vaters. Die Erinnerung machte sie traurig. Cevdet saß seit zwei Monaten ein. In dieser Zeit hatte ihn Güldane zweimal besucht, durch zwei Reihen Gitter, zwei Reihen schmutziges Glas hatte sie ihn nur zwei Minuten lang gesehen und war wieder zurückgekommen, ohne zwei Worte mit ihm gewechselt zu haben. Güldane versank in eine bittersüße Melancholie. Sie zog sich ihr Kleid über, warf sich ihr Kopftuch um den Hals und ging hinaus.
    Die Zigaretten kaufte sie nicht im Viertel, sondern in einem Laden an der Ecke der Straße, wo sie ihre Blumen verkaufte. Sie setzte sich auf die Bordsteinkante und zündete sich eine an. Der Rauch band sich in ihrem Rachen zu einem Knoten; Güldane musste husten. So begann ihr Tag.
    Später verkaufte sie zwischen den Autos, eingehüllt in den Staub, der von der Baustelle herüberwehte, ihre Blumen und vergaß dabei, was am Vortag geschehen war. Bis gegen Abend jener schwarze Jeep wieder an der Straßenecke auftauchte. Sobald Güldane ihn sah, sogar vorher noch, nämlich sobald sie seine Anwesenheit spürte, drehte sie sich reflexhaft weg und lief los. Ihr Blick war zwar nach vorne gerichtet, aber ihr Herz schien in ihrem Rücken zu pochen. Unter all den Autos nahm sie das Motorgeräusch eines einzigen Jeeps wahr und wie dieses Geräusch näher kam. Güldane lief weiter, die Autos flossen an ihr vorbei. Auch er wird vorbeifahren, dachte sie und sah noch im selben Moment, wie sich das rote Tuch von ihrem Kopf löste und in der ausgestreckten Hand des Fahrers neben dem Jeep herflatterte. Ihr kochte das Blut in den Adern und sie flitzte los. Sie holte den Jeep ein.
    »Gib her«, sagte sie.
    »Gib du her«, sagte der Mann im Jeep.
    »Was redest du da«, knurrte Güldane.
    »Gib mir eine Rose und ich gebe dir dein Kopftuch«, sagte der Mann.
    »Beides gehört mir, was willst du denn da tauschen?«, setzte Güldane dagegen.
    Sie versuchte, durch das Seitenfenster nach ihrem Kopftuch zu greifen. Der Mann packte Güldanes zerbrechlich dünnen Arm so fest, dass es wehtat. Dann lockerte er seinen Griff. »Tu sowas nicht wieder«, sagte er mit einem eigenartigen Lächeln und drückte auf das Gaspedal.
    Güldane wollte nicht weinen. Sie stand einfach da und sah zu, wie der Jeep mit ihrem Kopftuch davonfuhr. Kurz bevor er abbog und verschwand, tauchte am Seitenfenster das rote Tuch wieder auf. Dann wurde es losgelassen und stieg in die Luft. Eine Weile flatterte es im Wind. Wie ein hilfloser Vogel, erst über, dann zwischen den Autos. Der Vogel prallte gegen Kühlerhauben, das machte ihn wohl etwas benommen. Durch eine Lücke, die sich auftat, schwebte er zu Boden. Viele Reifen rollten über ihn hinweg. Güldane holte ihr Kopftuch nicht mehr aus dem Verkehr heraus. Sie machte sich auf den Heimweg.
    Zu Hause fand sie ihre Mutter weinend auf dem Sofa. »Dann nehmt mir auch noch das Leben, nehmt es mir doch!«, donnerte Safiye und schlug mit ihrer Faust bumm bumm auf ihre Brust. Yunus saß still da und baute ein Haus aus Spielkarten, die schon labberig geworden waren. Ihre Blicke trafen sich. Yunus zog die Achseln hoch. Güldane schaute ihre Mutter an. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Was ist passiert? Was ist passiert?« Safiye antwortete, indem sie über den Lebensmittelhändler und den Metzger fluchte, über den Markthändler Mustafa und ihre Nachbarinnen Hasibe, Nuran und Evren und über die Stromgesellschaft und die Telefongesellschaft und über den Gasflaschenlieferanten und wieder über die Telefongesellschaft und die Erdgasgesellschaft, über die Regierung und den Ministerpräsidenten und über jeden einzelnen Abgeordneten und schließlich, in Begleitung des Ausrufs »Gott vergebe!«, über das heuchlerische System und die Ungerechtigkeit in der Welt und über die Blindheit Gottes. Güldane ging hinaus. Während sich die Dunkelheit herabsenkte, wanderte ihre Seele ins Zentrum der Stadt.
    Güldane lief die Istiklâl Caddesi, die Straße der Unabhängigkeit, entlang und kümmerte sich dabei weder um den Alkoholgestank, der ihr immer wieder um die Nase wehte, noch um die Frauen und Männer, die so schwankten, als könnten sie
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