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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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jeden Moment über ihr zusammenbrechen, auch nicht um die farbenprächtigen und aggressiven Schaufenster und die Straßenhunde und die seelenlosen, mürrisch dreinschauenden Nachtpolizisten und die Lachsalven, deren Kanten nicht abgefeilt waren, und die Würgelaute und das Gekeife. Das Licht tat ihr gut. Sie spürte einen Schwindel, ähnlich wie in den Momenten, in denen sie sich eine Plastiktüte über den Kopf stülpte. Sie schaute in die Lichter, bis ihr die Augen schmerzten. Sie hoffte, in Ohnmacht zu fallen, fiel aber nicht. Betrübt kehrte sie zurück nach Hause, legte sich hin und schlief ein.
    Am nächsten Tag wollte es Güldane nicht gelingen, aus dem Bett zu steigen. Sie rollte sich hin und her. Bei jeder Drehung versuchte sie, auf eine neue Idee zu kommen, wie sie sich verhalten könnte, wenn dieser Typ im schwarzen Jeep wieder auftauchen sollte. Sollte sie seinem Wink folgen und auf ihn zugehen oder nicht? Ihm in die Augen sehen oder nicht? Ihm eine Backpfeife geben? Mit einem Messer seinen Jeep schrammen? Ihm einen Blechkanister hinterherschleudern? Dem Typen ins Gesicht spucken, sich auf ihn stürzen und ihn beißen, ihm in die Lippen beißen … mit einem einzigen Sprung in den Wagen klettern und ihn küssen, bis er keine Luft mehr bekommt, auf seinem Schoß sitzen und ihn erwürgen, ihm eine Eisenstange auf den Kopf schmettern, ihn schlagen, schlagen, bis Blut in Strömen fließt … ihm das Ohr abschneiden, das Auge ausstechen …
    Tausend Gedanken, einer teuflischer als der andere, sprudelten in Güldanes Gehirn. Je länger sie daran dachte, umso fiebriger wurde ihr, und je fiebriger ihr wurde, umso unruhiger bewegte sie sich unter der Decke. Mal im Traum und mal in der Wirklichkeit, zwischen Schlafen und Wachen, Blut und Wasser schwitzend verbrachte sie Stunden im Bett. Bis ihre Mutter kam, sie am Arm packte und aus dieser dunklen Höhle herausriss.
    »Wir haben das Wasser bis zum Hals, der Krämer will sein Geld, der Metzger will sein Geld. Dein Vater kennt keinen Halt, heute will er dies, morgen will er jenes. Du glaubst wohl, der Herrgott selbst wird uns Brot ins Haus tragen, wenn du hier mit Blei im Arsch rumliegst? Auf zur Arbeit!«, sagte sie. Und stellte ihr den Blumenkorb hin: blutrote Nelken starrten Güldane drohend an. Sie fand keine Antwort, die sie geben könnte, hängte sich trotzig den Korb an den Arm und ging aus dem Haus.
    Den ganzen Weg lang überlegte sie, dass sie ihre Blumen genausogut an einem anderen Ort verkaufen könnte. Es war ja nicht Gottes Befehl, immer zur gleichen Straßenecke zu gehen. Sie könnte auch woanders hin. Ein kleines Versteck für den Korb würde sich bestimmt finden. Ein Ort mit weniger Staub und Schmutz, mit Ampeln, die nicht so schnell auf Grün schalten, wo also die Autos länger stehenbleiben und wo man ohne Zeitdruck feilschen kann, wo es nicht so hektisch zugeht … Gab es in Istanbul keinen solchen Fleck? Bestimmt gab es ihn. Vielleicht nur eine Straße weiter. Es war ja nicht ihr Schicksal, immer die gleiche verdammte Stelle aufzusuchen. Also gleich hier nach rechts, am Ende der Straße nach links, dann noch einmal rechts, links. Und dann kommt sie plötzlich an einen völlig neuen Ort … landet mitten auf einem Blumenmarkt … Reizend junge Frauen verkaufen an schneeweißen Ständen Blumen in den prächtigsten Farben … Und der schönste, der größte Stand ist für Güldane reserviert … Und Güldane schreitet anmutig und graziös zu diesem Stand und nimmt dort ihren Platz ein … Flieder, Narzissen, Rosen, Kamillen, Tulpen … und vor allem, die am meisten geliebten Bartnelken. Auf diesem Markt gibt es alle Blumen aller Jahreszeiten. Aber Güldane verkauft nur Anemonen … Nur Güldane verkauft sie und nur Anemonen … Leuchtend rote Anemonen an dem weißen Stand … Anemonen, die schon die leichteste Brise verletzt … Damen in ihrer schicksten Garderobe, mit ihrem wertvollsten Schmuck, auf hohen Absätzen, in Pelzmänteln und feine Herren mit sorgfältig gerichtetem Seitenscheitel, glattrasiert und duftend, schlendern Arm in Arm über den Markt und kaufen feine Blumensträuße … Jeder Strauß hat eine Bedeutung … der Du-hast-mich-gestern-Abend-sehr-verletzt-Strauß … der Ich-bin-eifersüchtig-mach-mich-nicht-traurig-Strauß … der Ich-hab-dich-gesehen-im-Traum-du-hast-geweint-Strauß … der Ich-kann-es-nicht-sagenaber-ich-bin-verliebt-Strauß … der Ich-trenne-mich-nie-vondir-selbst-wenn-die-Erde-entzweibricht-Strauß … der
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