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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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sagte Güldane, »wir haben doch den Preis abgemacht, weniger geht nicht. Und außerdem bin ich so viel hinter dir hergerannt.«
    »Na gut«, sagte der Fahrer, »dann gib mal die Blumen her, Hauptsache, du bist glücklich.«
    Güldane reichte ihm die Narzissen. Sie merkte nicht, dass sie den frischesten und schönsten Bund ausgewählt hatte. Der Mann nahm ihn, die Ampel schaltete auf Grün, er neigte sich zur Seite, als wollte er seine Geldbörse herausholen, legte aber stattdessen den Gang ein, gab Gas und fuhr davon.
    Güldane blieb mitten auf der Straße zurück. Autos fuhren rechts und links an ihr vorbei und sie stand, unfähig, etwas zu sagen, unfähig, etwas zu tun, wie angewurzelt da. Als sie sich wieder gefasst hatte, fühlte sich ihr Herz wie Feuer an und es gab niemanden, der es löschen könnte. Mit einem wilden Schrei schleuderte sie alle Narzissen in die Luft. Die Blumen kreiselten herab und wurden nacheinander von den Autos überfahren. Güldane hockte sich, ihre Tränen herunterschluckend, an den Rand des Gehsteigs und schaute zu, wie die Narzissen in Stücke gerissen und vernichtet wurden, wie sie sich mit dem Schlamm der Baustelle vermengten und verschwanden. In diesem Moment war sie zu nichts anderem fähig.
    An jenem Abend war ihre Mutter nicht zu Hause, als sie heimkam. Nur Yunus saß vor der Tür. Möglicherweise wollte er etwas sagen, aber Güldane hatte nicht die Kraft, ihm zuzuhören.
    »Mir tun die Füße weh«, sagte sie.
    Und sie taten ihr tatsächlich weh. Sie lief schnurstracks in die Küche, riss dem Brotlaib auf der Küchentheke den Kopf ab, drückte ein wenig Schafskäse ins Brot und schluckte alles mit viel Wasser herunter. Yunus sah seiner Schwester schweigend zu. Sie legte sich aufs Bett, drehte sich um, lehnte ihre Füße gegen die Wand und schloss die Augen.
    »Soll ich was spielen?«, fragte Yunus. Er probierte ein paar Schläge auf seinem Tamburin, das er wie immer unter dem Arm geklemmt hielt. Güldane hob die Hand, ohne die Augen zu öffnen. »Lass es«, sagte sie. Yunus wurde still. Eine Weile blieben sie reglos, die Füße Güldanes an die Wand gelehnt und der Blick von Yunus auf den Boden gerichtet. Dann schlüpfte Güldane langsam, schlangenartig, unter die Decke. Sie streckte die Beine aus. Und Yunus setzte sich zu ihren Füßen. Er legte sein Tamburin zur Seite, hauchte in seine Hände und wärmte sie ein wenig. Er nahm die Füße seiner Schwester und drückte sie. Güldane stieß einen leichten Atem aus, das war ein gutes Zeichen. Yunus schöpfte Mut, nahm ihre Füße nacheinander zwischen seine Hände und massierte sie von der Ferse zu den Zehen, von dem kleinen Zeh zum großen, von rechts nach links, von links nach rechts … Güldane spürte wieder Blut in ihren Füßen kreisen, aber ihr Herz war immer noch vereist und sie wusste, dass diese Kälte nicht so schnell weichen würde. Hilflos schlief sie ein und Yunus blieb auf ihrem Bett sitzen.
    In jener Nacht hatte Güldane wirre Träume. Sie träumte von Fischen, die im Meer gegeneinander stießen, und von riesigen Wellen, die auf Felsen schlugen. Sie träumte von Fischen, die von den Wellen auf den Asphalt geschleudert wurden, und von riesigen Reifen, die die Fische zerquetschten. Sie sah Kopftücher, die vom Himmel fielen, aber nicht vereinzelt, sondern zu hunderten, tausenden. Blaue, gelbe, grüne … Sie träumte, dass die Kopftücher sie allmählich bedeckten, dass sie unter den Tüchern um Atem rang. Sie träumte, dass sie in Ohnmacht fiel und zu Wasser wurde und dass Fische in ihr trieben.
    Als Güldane am Morgen aufwachte, war sie erschöpft von ihren Träumen. Yunus lag noch zwischen ihren Füßen und schlief. Eine Weile betrachtete sie ihn. Sie rieb ihren Zeh mit lackiertem Nagel an seiner Nase. Yunus verzog das Gesicht. Sie lachte und rieb noch einmal. Yunus drehte den Kopf und schlief weiter. Güldane deckte ihn mit ihrer Decke zu und ging ins Bad. Sie zog sich aus. Um das Meerwasser, den Fischgeruch und den Staub der Reifen, die aus ihrem Traum übriggeblieben waren, abzuwaschen, schüttete sie sich schüsselweise Wasser über ihren Körper.
    Da sah sie sich in dem Spiegel an der Wand. Wasser rann über ihre Haut. Sie betrachtete sich selbst mit den Augen der durchs Fenster spähenden jungen Kerle des Viertels. Sie war schön, sie war wirklich schön. Während sie den Anblick ihres Spiegelbildes genoss, hauchte jemand einen warmen Atem zwischen ihre Beine, jedenfalls kam es ihr so vor. Dieser Atem
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