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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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verkaufen sollte. Zusammen landeten sie auf einer vielbefahrenen Straße in Etiler, einer der schicken Gegenden Istanbuls. Die erfahrene Schwester zeigte ihr, wo sie den Blumenkorb zu verstecken hatte: Der Pförtner eines Mehrfamilienhauses war einer von ihnen. Er hatte am Hauseingang eine kleine Nische für sie reserviert. Die Schwester drückte Güldane drei Bund Rosen in die Hand, ohne zu vergessen, vorher die Blätter zu entfernen, die etwas mitgenommen aussahen. Mit dem Handrücken träufelte sie Wasser auf die Blumen. Die Knospen leuchteten und strahlten, konnten aber trotzdem nicht mit Güldanes Anmut mithalten. Die Schwester überließ sie ihrem Schicksal zwischen den Autos und verschwand.
    Jenen ersten Tag sollte Güldane nicht mehr vergessen. Ihr Auftrag war, den Autofahrern Blumen zu verkaufen, immer wenn der Verkehr stockte, was sich als deutlich schwieriger erwies als zunächst vermutet. Der Staub und Rauch, die Dunstwolke der Abgase, die Autos, die auf sie zurasten, machten Güldane schon nach zwei Minuten ganz benommen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Ein solches Schwindelgefühl, diesen Taumel, den Wunsch, sich auf den Boden zu werfen, ein solches Verlangen, fortzufliegen, eine solche Wahrnehmung der Welt kannte sie noch nicht.
    Woran erkennt man, dass die Autos abbremsen werden – und wann sie wieder losfahren – wann geht ein Fahrer vom Gas – und wann beschleunigt er wieder? Das war für Güldane ein Buch mit sieben Siegeln. Ihr war, als wäre sie in einen brodelnden Hexenkessel gefallen. Wie oft wurde sie, während sie versuchte, einem Wagen hinterherzulaufen, nur dank eines kreischenden Bremsmanövers vor den Reifen eines anderen gerettet. Wie viele Bündel wurden ihr entrissen, weil der Verkehr sich lichtete, bevor sie ihr Geld einnehmen konnte und der Fahrer Vollgas gab. Wie oft rammten Außenspiegel ihre Lenden. Wie viele Male drehte sich die Welt um ihren Kopf und hätte sie fast zu Boden geworfen. Sie blieb stehen und setzte sich nieder, sie stand auf und übergab sich, ihr tränten die Augen und sie konnte es nicht verhindern. Aber trotzdem weinte sie nicht, hörte sich nur irgendwann ein seltsames Röcheln ausstoßen.
    An jenem Tag rollten tausende Autos nicht über den Asphalt, sondern über Güldane.
    Als sie zu Hause ankam, fühlte sie sich dem Sterben nahe. Weder aß sie einen Bissen, noch trank sie einen Schluck oder sprach ein einziges Wort; sie schleppte sich in das hintere Zimmer, legte sich ins Bett und rührte sich die ganze Nacht nicht mehr von der Stelle.
    Ihre Mutter kam zu ihr. »Mein Mädchen«, sagte sie, »was fehlt dir«, sagte sie, »Kind, steh doch auf«, sagte sie, »mach den Mund auf, sprich mal ein Wörtchen«, sagte sie. Aber von Güldane war kein Ton zu hören. Dann tauchte Yunus an ihrem Kopfende auf, rüttelte seine Schwester ein wenig, schlug einmal und dann noch einmal auf das Tamburin. Und Güldane packte das Instrument und schmetterte es gegen die Wand. Schließlich fanden sich Mutter und Bruder damit ab und beschlossen, sie in Ruhe zu lassen.
    Güldane drehte sich im Bett einmal zweimal um, dreimal fünfmal um. Ihre Lagerstätte verwandelte sich bald in eine Schlucht, und von ihrem Grund spien Flammen. Da versuchte sie, sich an die linke Bettkante zu retten und auf den Rücken zu legen. Kurze Zeit später aber erfasste das Feuer ihren Rücken und sie rutschte auf die rechte Kante. So wand sie sich immer wieder im Bett, bis sie schließlich keine Kraft mehr hatte und in einen wirren Schlaf fiel.
    In einer Hälfte dieses Schlafes hatte Güldane Albträume. Sie sah tausende Autos, hunderte Farben, zehntausende Gesichter, Scheinwerfer, Spiegel, Seitenspiegel, blinkende Ampeln. Rote gelbe grüne. Dann wurde alles nur schwarz.
    In der zweiten Hälfte war sie ganz in Finsternis eingehüllt. Und da geschah etwas Unerwartetes. Das Romablut Güldanes regte sich und begann, sich selbst zu erneuern. Frisches Blut floss in ihr Gehirn und reinigte es von Staub und Abgasen, die sich dort abgelagert hatten. Dann floss es in ihr Herz und alle Ängste, Sorgen, Verzweiflungen lösten sich leise auf. Es floss auch in ihre Arme, ihre Beine, in ihre Fingerspitzen und belebte ihren Körper, machte ihn geschmeidig, machte ihn gelenkig.
    Sie erwachte in der Morgenröte und verspürte eine Kraft, die sich fast wie Rachelust anfühlte. Sie aß keinen Bissen, sagte niemandem ein Sterbenswörtchen, schnappte ihren Blumenkorb und machte sich auf den Weg.
    Als sie Etiler erreichte,
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