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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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Ende!
    Enttäuschtes Gemurmel hob unter den Zuschauern an. Sie waren verlassen worden, bevor ihre Erwartungen erfüllt wurden. Ihre Blicke richteten sich auf Yunus. Yunus war aber längst fort. Sie schimpften und tobten, als wären sie nicht aus einem Traum, sondern aus einem Albtraum erwacht.
    Ganz schön dumm, die Jungs!
    Ihre Schreie übertönten Cevdets Schnarcher; der Mann spürte, dass irgendetwas Ungewöhnliches geschah, polterte mit einer Agilität hinaus, die man seinem behäbigen Leib nicht zugetraut hätte, und stand in voller Größe vor den Jungs, die immer noch nicht begriffen hatten, was mit ihnen geschehen war.
    »Verpisst euch!«, schrie er. »Zieht Leine, ihr Affenärsche! Was treibt ihr für ’nen Scheiß an meiner Schwelle?«
    Die Dümmsten unter den Dummen wollten sich aufspielen und diese Schimpfworte nicht auf sich sitzen lassen; sie antworteten Cevdet. Daraufhin zückte er sein Springmesser und stellte ihnen damit eine Frage. Er ließ es einmal in der Luft kreisen und rammte es in das Bein des dünnsten, des kränklichsten Jungen unter ihnen. Die Antwort auf seine Frage blieb aus. Denn das Geheul des Verletzten spaltete die Dunkelheit entzwei, und alle schlüpften durch diesen Spalt und waren verschwunden. Cevdets Kopf wurde wieder in Nebel gehüllt, er ließ sein Messer auf den Boden fallen. Der Nebel war sehr dicht, und er vergaß sogar, dass er sein Messer verloren hatte.
    Als Cevdet wieder hereintrat, hatten Güldane und Yunus bereits die Einnahmen der Vorführung unter sich aufgeteilt und sich unter der Bettdecke versteckt. Der Vater ging schlafen.
    Im Morgengrauen wurde so heftig gegen die Tür gehämmert, dass man befürchten musste, sie würde sich aus den Angeln lösen. Alle Hausbewohner wachten sofort auf. An der Art, wie die Tür bearbeitet wurde, erkannten sie, wer gekommen war. Begleitet von Safiyes schrillem Geschrei und den verschreckten Blicken von Yunus und Güldane packten die Polizisten Cevdet am Arm und führten ihn ab.
    Ein Junge lag verwundet im Krankenhaus. Das Messer, das ihn verletzt hatte, wurde auf dem Boden gefunden. Und auf dem Griff hatte man die Fingerabdrücke Cevdets identifiziert. So wurde er wegen Körperverletzung eingelocht; Grund des Streits war gegenseitige Beleidigung. Was der Grund für die Beleidigungen war, sagte der verwundete Junge nicht. Und Cevdet wusste es ohnehin nicht. Auch die Augenzeugen blieben ziemlich einsilbig. Schließlich wurden die Akten geschlossen und zusammengeschnürt, ohne dass ein Schatten auf Güldane geworfen wurde.
    Die ersten drei Tage, die auf die Inhaftierung Cevdets folgten, verließ Safiye nicht ihr Bett. Mal stimmte sie Klagelieder an wie eine Frau, deren Mann aus der Welt geschieden war, mal zog sie über die Dreckshunde des Viertels her und verfluchte sie, mal fiel sie mit tiefem Schnarchen in den Schlaf, mal weinte sie lautlos.
    Während dieser Zeit verkroch sich Yunus in einer Ecke und Güldane in einer anderen. Still warteten sie ab, ohne sich zu regen. Drei Tage später riss die Trauer im Haus auf einen Schlag ab. Safiye donnerte »Auf geeeht’s!«, mit einer Stimme, die ihrer Leibesfülle gebührte. Dann schritt sie hinaus.
    Güldane und Yunus warteten zusammengekauert in ihren Ecken, sich fragend, was diese Ankündigung bedeuten mochte.
    Gegen Abend kam Safiye zurück, in einer Hand einen Korb voller Blumen, in der anderen eine riesenhafte Plastiktüte, prall mit Papiertaschentüchern gefüllt. Die Taschentücher drückte sie Yunus in die Hand, den Blumenkorb stellte sie vor Güldane auf den Boden.
    »Morgen geht ihr arbeiten. Kein Vater, kein Geld. Wir werden verhungern. Los, arbeitet!«, sagte sie kurzerhand.
    Yunus mochte die Taschentücher nicht. Güldane gefielen die Blumen. Eine brach sie ab und befestigte sie hinterm Ohr. Sie stellte sich vor den Spiegel und sah sich an. Sie wand ihren Hals und sah sich an. Sie ließ ihre Schultern zittern und sah sich an. Sie warf den Kopf zurück und sah Yunus an. Und Yunus schlug auf sein Tamburin. Güldane begann zu tanzen. Die melancholischen Klänge der Roma vermählten sich mit der Traurigkeit, die Cevdet hinterlassen hatte. Während Yunus’ Finger wie zwei Skorpione auf dem Leder seines Instruments wanderten, seufzten auch die Gegenstände im Haus. Die ganze Familie entblößte den Bauch zum Tanz und betete für Cevdet.

    Auf den Schwingen einer älteren Schwester aus dem Viertel, einer erfahrenen Blumenverkäuferin, flog Güldane dahin, wo sie ihre Blumen
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