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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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die Gerüche des Mülls allmählich und das Gebot von Yunus erreichte im Gefolge des Windes Güldanes Ohr. Augenblicklich fing auch ihr Herz an, im gleichen eintönigen Rhythmus von Yunus’ Tamburin zu klopfen. Ihre Wangen röteten sich vor Aufregung. Sie rannte vom Müllberg hinunter und lief ohne Atempause, bis sie zu Hause ankam.
    Dort wurde sie von Blumenkohlgeruch empfangen. Der Vater war schon da, hatte seinen Platz am Tisch eingenommen und wartete mit einem Stück Brot in der Hand auf das Essen. Yunus hatte sich an seine Seite gesetzt. Einen Moment lang trafen sich die Blicke der Geschwister, und mit Blicken verständigten sie sich über den Verlauf des Abends. Yunus machte sich an dem Blumenkohl zu schaffen, den er von seiner Mutter auf den Teller bekommen hatte, und Cevdet saß einfach da, die Augen ins Leere gerichtet. Schließlich umklammerte er mit seiner gewaltigen Hand langsam sein Glas und schlug mit dem Glasboden auf den Tisch.
    »Gieß ein!«, sagte er.
    Safiye ging, sich in den Hüften wiegend, lustlos, aber ohne Widerspruch zum Kühlschrank. Sie nahm die große Flasche Rakı heraus, öffnete den Schraubverschluss mit einer einzigen Drehung, ohne dabei den Blick von ihrem Mann zu lösen, und füllte das Glas, dessen Boden soeben auf den Tisch geknallt worden war. Bis zur Hälfte. Den Rest füllte sie langsam, ganz langsam, mit Wasser auf. Der Gedanke, bei so viel Gemächlichkeit könnte für ihren Vater das Maß voll sein, noch bevor das Glas gefüllt war, jagte Güldane eine Heidenangst ein. Sie wollte keinen Ärger; am Abend war Vorstellung. Zum Glück war Cevdet geduldig. Als der Rakı von der Farbe des Wassers zur Farbe der Wolken wechselte, griff Cevdet nach dem Glas und trank es Schluck für Schluck aus. In einem Atemzug. Den Boden des leeren Glases schlug er wieder auf den Tisch.
    »Frösche werden knapp«, sagte er.
    Seine ganze Kindheit hatte Cevdet in Edirne damit zugebracht, mit seinem Vater Frösche zu fangen. Er wusste noch, dass er früher mit einem Mal fünf Frösche fangen konnte, wenn er seine Hände ins Wasser tauchte. Und sonst wusste er nichts, also, außer Fröschefangen!
    So hatte ihn damals Safiye auch überredet. »In Istanbul«, hatte sie gesagt, »soll es einen Bach geben, der heißt Froschbach. Das Wasser plätschert so schön, so klar. In diesem Bach gibt es mehr Frösche als Steine, hat man mir erzählt. Du tauchst die Hände rein und hast gleich zehn Frösche, zwanzig Frösche. Dann haben wir so viel Geld wie Sand am Meer, nur dass du es weißt!«
    Cevdet hatte geglaubt, was Safiye über den Froschbach erzählte, er hatte ihr vertraut. Er hatte Güldane, damals dreieinhalb, an die Hand genommen, Yunus in den Bauch Safiyes gepflanzt und war nach Istanbul gekommen. Doch weder verdiente der Bach den Namen Bach noch der Frosch darin den Namen Frosch. Vor allem in den letzten Jahren – fünf Frösche auf einmal in der Hand, ach wo! – grenzte es an Wunder, im Verlauf eines ganzen Tages auch nur ein paar Frösche zu entdecken. Je knapper die Frösche wurden, umso düsterer wurde Cevdet. Und je düsterer er wurde, umso dunkler wurden seine Geschäfte. Die Tütchen, die er sich anfangs drehte, um sich in ihrem Dunst zu erheitern, wurden zum Lebensunterhalt der Familie. Cevdet war zwar nicht besonders glücklich damit, aber es gab keinen anderen Ausweg; der Topf auf dem Herd musste gefüllt werden.
    Erst nachdem er das erste Glas Rakı in sich hineingekippt hatte und auch selbst so richtig in die Tiefe gesegelt war, trank er vernünftig weiter. Das heißt, er schenkte sich keinen Doppelten ein, sondern einen Einfachen, füllte das Glas mit der passenden Menge Wasser auf, nahm einen Schluck, hielt inne und träumte von den Fröschen. Er fing drei, vier, fünf Frösche und nahm einen weiteren Schluck. Am Ende war er sternhagelvoll.
    Yunus wartete, bis sich der Nebel in Cevdets Kopf ausreichend verdichtet hatte, um leise wie eine Feder den Tisch zu verlassen, sein Tamburin unter den Arm zu klemmen und sich hinauszustehlen. Güldane begriff, dass die Zeit gekommen war. Sie schaute ihre Mutter an. Safiye hatte sich schon längst auf dem Sofa ausgebreitet, ihr Rock war dabei leicht hochgerutscht. Der Vater war nicht mehr in der Lage, ihre Beine beziehungsweise sie oder irgendjemanden zu sehen. Güldane hielt den Atem an. Wie ein Geist stand sie auf, lief zum Bad und schlich hinein. Mit ihren zierlichen Fingern drehte sie den Schlüssel um und schloss hinter sich zu. Sie war
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