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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe
Autoren: Simon Beckett
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    |7| KAPITEL 1
    Die Haut.
    Das größte Organ des Menschen ist zugleich das am wenigsten beachtete. Dabei macht es ein Achtel der gesamten Körpermasse
     aus und bedeckt bei einem durchschnittlichen Erwachsenen eine Fläche von etwa zwei Quadratmetern. Strukturell ist die Haut
     ein kunstvolles Geflecht aus Kapillargefäßen, Drüsen und Nerven, das sowohl regulierende als auch schützende Funktionen hat.
     Sie ist unsere sensorische Schnittstelle zur Außenwelt, die Grenze, an der unsere Individualität – unser
Ich
– endet.
    Und selbst im Tod bleibt etwas von dieser Individualität erhalten.
    Wenn der Körper stirbt, laufen die Enzyme, die das Leben unter Kontrolle gehalten hat, Amok. Sie zerstören die Zellwände und
     lassen deren wässrige Inhalte entweichen. Diese Flüssigkeiten steigen an die Oberfläche und sammeln sich unter den Hautschichten,
     die dadurch gelockert werden.
    Haut und Körper, bis zu diesem Zeitpunkt zwei wesentliche Teile eines Ganzen, beginnen sich zu trennen. Blasen entstehen.
     Vollständige Hautabschnitte verrutschen und werden vom Körper abgeworfen wie ein überflüssiger Mantel an einem Sommertag.
    Doch selbst tot und abgestreift behält die Haut Spuren |8| ihrer früheren Identität. Noch jetzt kann sie eine Geschichte erzählen und Geheimnisse bewahren.
    Vorausgesetzt, man weiß, wonach man schauen muss.
     
    Earl Bateman lag auf dem Rücken, das Gesicht der Sonne zugewandt. Am blauen, wolkenlosen Himmel Tennessees kreisten Vögel,
     langsam löste sich der Kondensstreifen eines Flugzeuges auf. Earl war immer ein Sonnenanbeter gewesen. Er hatte es genossen,
     wenn sie ihm beim Angeln auf der Haut gebrannt hatte, und er hatte das Flimmern der Sonnenstrahlen geliebt, die allem, was
     von ihnen berührt wurde, einen neuen Glanz verliehen. In Tennessee herrschte kein Mangel an Sonnenschein, aber Earl stammte
     ursprünglich aus Chicago, und die Kälte der eisigen Winter dort hatte sich in seinen Knochen festgesetzt.
    Nachdem er in den siebziger Jahren nach Memphis gezogen war, hatte er schnell gemerkt, dass ihm die schwüle Wärme wesentlich
     mehr behagte als die windigen Straßen seiner Heimatstadt. Als Zahnarzt mit einer kleinen Praxis, der für eine junge Frau und
     zwei kleine Kinder sorgen musste, hatte er natürlich nicht so viel Zeit in der Natur verbringen können, wie er gewollt hätte.
     Aber er war sich ihrer immer bewusst gewesen. Er mochte sogar die drückende Sommerhitze in Tennessee, wenn sich jede Brise
     wie ein heißer Umschlag anfühlte und er die Abende mit Kate und den Jungen in der Schwüle ihrer beengten Wohnung verbrachte.
    Seitdem hatte sich einiges verändert. Die Zahnarztpraxis hatte floriert, und die kleine Wohnung war längst Vergangenheit.
     Zwei Jahre zuvor war er mit Kate in ein neues, geräumiges Haus in einer guten Gegend gezogen, das einen großen grünen Garten
     hatte, wo sich das frühe Morgenlicht |9| im feinen Sprühnebel der Rasensprenger brach, sodass winzige Regenbogen zu sehen waren. Hier konnte die wachsende Anzahl der
     Enkel gefahrlos spielen.
    Genau in diesem Garten, als er sich gerade schwitzend und fluchend damit abquälte, einen abgestorbenen Ast von dem großen
     alten Goldregen zu sägen, hatte ihn der Herzinfarkt ereilt. Er hatte die Säge im Baum stecken gelassen und noch ein paar taumelnde
     Schritte zum Haus geschafft, ehe der Schmerz ihn niedergestreckt hatte.
    Im Krankenwagen, eine Sauerstoffmaske auf seinem Gesicht, hatte er Kates Hand gehalten und sich ein Lächeln abgerungen, um
     sie zu beruhigen. In der Klinik war er von einer ganzen Schar Schwestern und Ärzte in Empfang genommen und eilig an piepende
     Maschinen angeschlossen worden. Als sie schließlich verstummten, war es eine Erleichterung gewesen. Kurz darauf, nachdem die
     notwendigen Formulare ausgefüllt worden waren und die unvermeidliche Bürokratie, die uns von Geburt an begleitet, ihren Lauf
     genommen hatte, war Earl entlassen worden.
    Jetzt lag er ausgestreckt in der Frühlingssonne. Er war nackt und lag auf einem niedrigen Holzgestell über dem Teppich aus
     Rispengras und Laub. Er befand sich seit über einer Woche dort, sodass sich das Fleisch bereits aufgelöst hatte und man unter
     der mumifizierten Haut Knochen und Knorpel erkennen konnte. Ein paar Haarbüschel hingen noch am Schädel, aus dem leere Augenhöhlen
     in den klaren blauen Himmel starrten.
    Ich beendete meine Messungen und trat aus dem Maschendrahtkäfig, der die Leiche
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